»Coelinblau, kalt wie Stahl, hart wie dein Fuß. Heute male ich ein neues Bild. Ich habe seit Tagen auf dieses Wetter gewartet.« Er machte sich an seiner Staffelei zu schaffen.
»Sagen Sie mal, haben Sie eigentlich einen Namen?«
Verstört starrte er Straubinger an. »Natürlich hab ich einen Namen.«
»Wie darf ich Sie nennen?«, wollte Straubinger wissen.
»Nenn mich so wie alle. Nenn mich Wolkenmaler«, sagte er mit ernster Miene. »Namen sollten ja etwas über einen Menschen erzählen. Ich gebe jedem einen eigenen, eine treffende Bezeichnung. Ich bin Wolkenmaler, du bist Eisenfuß. Das sagt mehr aus als der Taufname, der uns in Unwissenheit als Kind gegeben wurde, ohne uns zu kennen.« Er schob den Haltebügel nach oben und klemmte eine leere Leinwand fest.
Straubinger beschloss, ihn fortan ebenfalls zu duzen. »Gut, du bist der Wolkenmaler.«
Er nickte.
»Ich habe Bilder wie diese heute schon mal gesehen. Im Kupferhof Blumenthal.«
Der Wolkenmaler zeigte keine Regung.
»Bei Gerhild Vandenberg. Kennst du sie?«, fragte Straubinger.
Der Alte sah zu Boden. Plötzlich schnellte er vor wie eine Krähe und keifte ihn an: »Du wirst ihr nichts tun!« Seine Augen schienen zu lodern.
Straubinger wich zurück. »Nein, nein, was sollte ich ihr tun?«
Der Wolkenmaler wühlte in einem Holzkasten mit Farben. Er holte drei Tuben hervor und quetschte je einen dicken Klecks auf eine Holzpalette. Dann nahm er einen breiten, schweren Pinsel, lud ihn mit den drei Farben auf und schlug ihn wild auf die Leinwand. Straubinger sah fasziniert zu, wie er eine Grundierung anlegte, die bereits einen weiten, kühlen Himmel in seinen Augen entstehen ließ.
»Sag mal, Wolkenmaler, was ist unter deinem Himmel?«
»Unter? Unter meinem Himmel?«
»Was ist das, was du nie malst?«
Der Wolkenmaler antwortete nicht.
»Was wäre auf einem Bild zu sehen, wenn du den Horizont malen würdest? Was würde ich dort erkennen?«
»Kann man nicht malen«, schnarrte er, sah ihn verschämt an und trippelte zurück in die Hütte, als müsse er ein Geheimnis beschützen.
»Ich will, dass du es für mich malst«, sagte Straubinger und stützte sich am Türsturz ab. »Ich will wissen, was dein Horizont zeigt.«
Der Wolkenmaler sah stoisch ins Leere. Er verzog keinen Muskel im Gesicht, sagte nichts und atmete schwer.
»Es wäre ein besonderes Bild.« Straubinger ließ nicht locker. »Was würde es zeigen?«
Der Wolkenmaler holte zwei Schnapsgläser und zeigte ihm eine klare Flasche mit einer braunen, leicht trüben Flüssigkeit. »Wolkenels« stand dort schwungvoll in Frakturschrift, ein hellblauer Himmel war auf das Etikett gemalt. Aus der Flasche ließ er je einen Schnaps in die Gläser fließen. »Trink!«
Straubinger nahm das Glas, roch daran und rümpfte die Nase. »Was ist das?« Das bitterstarke Aroma widerte ihn ein wenig an.
»Els. Aus Kräutern, die dir den Magen vergrätzen und ihn doch schützen vor all dem Unheil, das in dieser Luft schwebt.« Der Wolkenmaler hielt das Glas gegen den Himmel. »Das einzig Heilbringende hier in der Gegend!«, rief er. Dann forderte er Straubinger noch mal zum Trinken auf. »Weg damit!« In einem Zug kippte er den Schnaps in seinen Schlund.
Straubinger tat dasselbe. »Puh, ganz schön bitter. Was ist denn da drin?«, fragte er und verzog das Gesicht.
»Artemisia absinthium, Wermutkraut. Der Franzos’ macht seinen Absinth draus, der Italiener den Martini und der brave Eifler seinen Els. Und mein Els enthält außerdem Minze. Bau ich hier hinter der Hütte an. Gut bei Magenbeschwerden! Das macht aus ihm eine Medizin, und Medizin ist eben besonders bitter.«
Straubinger betrachtete den grünlichbraunen Schimmer am Rand des leeren Glases und schüttelte sich. »Wer denkt sich so was aus?«
»Mit Els hat früher manch wackerer Bauer die Verdauung seiner Kuh reguliert. Und was fürs Vieh gut ist, das kann dem Menschen nicht schaden.«
Gressenicher Wald, 9.35 Uhr
– eine Viertelstunde vor dem Moment
Sie führte den Jungen in einem weiten Bogen durch dichten Wald um die Lichtung herum, bis sie auf der gegenüberliegenden Seite angekommen waren. Der Junge blieb die ganze Zeit hinter ihr. Dann blieb sie stehen. »Guck mal!«, rief sie. »Siehst du?« Sie zeigte auf eine Stelle im Unterholz, wenige Meter vor ihnen.
»Uiui«, staunte der Junge, »zwei Steinpilze.«
»Die kannst du nehmen. Unten direkt am Boden abschneiden und vorsichtig in die Tasche legen. Da stehen bestimmt noch mehr«, sagte sie und wies auf das Wurzelwerk eines großen Baums, ein paar Schritte entfernt.
»Womit denn?«, fragte der Junge.
Sie fasste in ihre Manteltasche, lächelte ihn strahlend an, holte ein großes silberglänzendes Taschenmesser hervor, an dem eine kleine Kette mit einer Medaille baumelte, und hielt es ihm hin.
Der Junge konnte es kaum fassen. »Boaaah! Für mich?«, fragte er leise, als würde er befürchten, dass sie es wieder wegnähme.
Sie nickte. »Ja, für dich, mein Schatz. Du wirst bald acht. Da kannst du mit so was jetzt umgehen.«
Voller Glück nahm er das schwere Messer in die Hand, las die Gravur darauf mit seinem Namen und öffnete es. Er wollte seiner Mutter in die Arme fallen, doch sie hielt ihn zurück. »Vorsicht, mein Junge, es ist scharf!«, sagte sie.
»Das ist ja richtig groß! Woher hast du es?«, fragte er leise, voller Ehrfurcht.
»Es … Es ist …«, ihr Blick lag zwischen Demut und Befürchtung, »es ist von deinem Papa.«
Der Junge sah sie traurig an. »Wo ist er denn?«
»Du weißt doch, dass er nicht da ist.« Sie wollte ihm gerade ausführlicher antworten, da ging sie schnell in die Hocke und hob den Zeigefinger an die gespitzten Lippen. »Psst«, flüsterte sie, »da sind zwei.«
Der Junge klappte das Messer zu, stützte seine Hände auf die Knie und folgte ihrem Blick durchs Unterholz, und tatsächlich: Zwei Männer sprachen miteinander, der jüngere schien dem älteren etwas zu zeigen. Mitten in dem Durcheinander gesprengter Bäume.
»Was machen die da?«, fragte der Junge.
»Ruhig!«, zischte sie und gab ihm einen Klaps auf die Lippen.
Vor Schreck zwinkerte der Junge kurz mit den Augen. Dann beobachtete er, wie der ältere der beiden Männer mit einem merkwürdigen Gerät voranging. Er trug einen schweren Rucksack, hielt eine Stange mit einem dicken Teller am unteren Ende in der rechten Hand und bewegte sie hin und her über den Boden. Ab und zu hob er die Hand und rief etwas, woraufhin der Jüngere hinter ihm ein kleines Fähnchen in den Boden steckte. Dann rief der Ältere: »Ich hab hier was!«
»Mama, was ist das für ein Ding?«, fragte der Junge aufgeregt. »Das sieht aus wie ein … ein Putzschrubber oder so.«
Die Mutter folgte mit ihrem Blick seinem ausgestreckten Zeigefinger. Sie beobachtete, was der Ältere machte, und hob ratlos die Schultern. »Ich weiß es nicht. Ist egal. Ist nix für uns, hörst du?«
Der Junge nickte enttäuscht. »Aber …«
»Nix aber!«, befahl die Mutter streng. »Wir machen weiter. Und lauf nicht weg, hörst du? Ich nehme die Pilze dahinten.«
Während seine Mutter Pilze abschnitt, hockte der Junge neugierig hinter einem Busch und schaute den beiden Männern zu. Der Ältere begann damit, das Gestrüpp zu entfernen. Der Jüngere ging etwa die Hälfte des Weges zurück, den sie gegangen waren, sah kurz zum Älteren hinüber, der ihm gerade den Rücken zukehrte und anscheinend sehr beschäftigt war, zog vier Fähnchen heraus und pflanzte sie an einer anderen Stelle wieder ein.
»Nun mach schon«, tuschelte seine Mutter mahnend.
Der Junge schickte sich an, die beiden Pilze zu ernten, so wie seine Mutter es ihm gezeigt hatte. Dann entdeckte er vor sich unter einem kleinen Haufen Reisig ein weiteres Exemplar, viel größer als die beiden anderen. Er schnitt den dritten Pilz vorsichtig ab und hob ihn wie eine Jagdtrophäe jauchzend in die Höhe. »Guck mal, Mama!«, rief er. »Ein Riesending!« Stolz stand er da, mit einem Steinpilz in der gereckten Hand, fast so groß wie zwei seiner Fäuste, das Taschenmesser in der anderen.
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