»Hab ich’s mir doch gedacht. Als ich die Kanne da stehen sah, hab ich’s gewusst.« Er fasst sie bei den Schultern und sieht ihr direkt in die Augen. »Hör zu Mädchen. Vielleicht gibt es einen Weg. Aber nur, wenn du versprichst, dass du vernünftig bist. Hast du gehört?«
Buchela nickt. Sie weiß, die ganze Welt besteht aus Wegen. Nur die Gadsche können das nicht sehen. Außer Onkel Johann Baptist. Der denkt immer noch ein zweites Mal nach.
15.
Feldgrau ist der Fluss, an dessen Ufer sie seit einiger Zeit entlang fahren. Ab und zu sieht Buchela beladene Schiffe, die sich bergan kämpfen oder talwärts schnelle Fahrt machen. Aber mehr als vom Fluss wird ihre Aufmerksamkeit von den Menschen gefangen, die in langen Schlangen vor irgendwelchen Geschäften stehen. Frierende Frauen vor allem, manche mit kleinen Kindern im Arm. Auch Alte, Tücher um Hals und Kopf geschlungen, Decken um die Schultern. Die Gesichter ausdruckslos grau, so grau wie die Fassaden der Häuser. Rot gefrorene Nasen. Kein Baum weit und breit. Nur diese bleierne Steinwüste.
Über das Kopfsteinpflaster rumpelt der Wagen. Hinten auf der Ladefläche haben sie Buchenholz geladen und sicherheitshalber eine Plane darüber gebreitet.
»Wo geht’s denn hier zur Hafengasse?« Der Kutscher bleibt neben den Wartenden stehen.
»Jlich rääts de Eck eröm«, sagt die angesprochene Frau. Dann fällt ihr Blick begehrlich auf den beladenen Anhänger. »Han se jätt ze verkoufe?«
Der Kutscher schüttelt den Kopf. »Alles Staatsware. Wenn ich die nicht aufs Gramm abliefere, hab ich die Polizei am Hals.«
Trotz seiner Auskunft kommen die Leute aus der Schlange nun näher heran. Da zieht der Mann die Zügel an, so dass der Gaul sich wieder in Gang setzt.
Buchela weiß, dass der Kutscher gelogen hat. Er bringt das Holz nach Marienburg zu Leuten, die es sich leisten können, unter der Hand Brennmaterial zu kaufen. Da sie an keine Kohle herankommen, verfeuern sie nun Buchenholz. Sie wendet sich noch einmal um. Die Menschen weichen zurück in die Reihe, als hätten sie Angst, ihren errungenen Platz zu verlieren.
Nach fünfzig Metern lenkt der Kutscher den Wagen um die Kurve. Onkel Johann Baptist hat ihm eingeschärft, das Mädchen direkt vor der Tür abzusetzen und nicht einmal eine Straße weiter. Ecke Buttermarkt hält er und schaut die Fassade hoch. Tristes Grau auch hier.
»Dann steig mal ab, Mädchen.« Er selbst springt auch vom Bock und schlägt die Plane ein Stück zurück. Zwischen dem Holz hat er in der Mitte einen Sack versteckt, der Buchelas Habseligkeiten enthält. Der Sack ist schwer, denn Onkel Johann Baptist hat einige Kilo Kartoffeln, ein Stück Speck und sogar Schinken dazu gepackt.
»Hör zu Mädchen«, sagt der Kutscher. »Ich muss hier bleiben. Ich kann den Wagen nicht allein lassen. Sonst hab ich hinterher nichts mehr drauf. Du musst den Sack also allein schleppen. Schaffst du das?« Buchela nickt. »Aber ich warte hier unten, bis du mir ein Zeichen gibst. Verstanden?« Wieder nickt Buchela. »Oder warte.« Er fährt sich mit der Hand durchs störrisch krause Haar. »Ich halte den Sack hier, bis du die Wohnung gefunden hast. Und dann kommst du noch mal und holst ihn dir. Aber beeil dich. Ich kann nicht ewig hier stehen bleiben. Ein Schupo, der mich genauer kontrolliert, und ich habe Theater.«
Buchela schiebt die abgeblätterte Holztür auf und betritt den dunklen Flur. Drinnen ist es genauso kalt wie draußen. Aber hier mischen sich allerhand Gerüche in der Luft, die sie nicht richtig unterscheiden kann. Vielleicht Kohl. Vielleicht der Geruch von den Klohäuschen, die sie durch die offen stehende Tür zum Hinterhof sieht. Sie bleibt vor den Postkästen stehen und betrachtet die Namensschilder. Schmitz, Schmitz und noch mal Schmitz. Lamers, von der Ahe. Jede Menge Namen, aber der richtige ist nicht dabei. Deshalb geht sie weiter zu den ersten Wohnungstüren und sieht sich die Namensschilder an. Dann erklimmt sie die ausgetretene Holztreppe und überprüft nun Stockwerk für Stockwerk die Klingeln. Aber als sie im obersten Stockwerk angekommen ist, hat sie den Namen der Mutter immer noch nicht entdeckt. Sie schaut sich suchend um, bleibt unschlüssig auf dem obersten Absatz stehen. Dann fasst sie sich ein Herz und tritt zu einer der beiden Türen, dreht die Klingel, die mitten darauf sitzt und einen unangenehmen, unvermittelt abreißenden Ton gibt.
Durch das Milchglas sieht sie eine Gestalt näher kommen. Die Tür wird von einem alten Mann, dessen Hosenträger sich über dem Bauch spannen, geöffnet. Ein Sinto, denkt Buchela erleichtert und sucht in der Erinnerung, ob sie diesen Mann jemals zuvor gesehen hat. »Wat willste?«, fragt der unwirsch.
Buchela weicht einen Schritt zurück. »Meine Mutter«, stammelt sie. »Josephine Meerstein.«
Der Mann kratzt sich den Bart und lässt sich Zeit. Dabei mustert er das Mädchen von oben bis unten. »Und du willst die Pen sein, ja? Komm mal näher.«
»Bestimmt bin ich die Tochter«, nickt Buchela und geht auf den Mann zu. »Die Älteste. Buchela«.
»Da kommen immer wieder welche«, sagt der Mann.
»Ävver wenn du Buchela bis.« Er weicht einen Schritt zurück, so dass der Blick in den Flur sich öffnet. »Dann komm ens heren, die letzte Tür rechts«, brummelt er.
Buchela tritt in den dunklen Flur und steuert auf die Tür zu. Sie bleibt davor stehen, klopft dann. Drinnen scheint sich nichts zu rühren.
Sie klopft noch einmal etwas lauter.
Der Mann beobachtet, wie sie unschlüssig ausharrt.
»Geh schon rein, auf was wartest du? Die ist da! Das weiß ich.« Vorsichtig drückt das Mädchen die Klinke, blickt in den Raum, in den durch die vorgezogenen Gardinen nur spärlich Licht fällt. Sie sieht nicht viel mehr als einen unförmigen Haufen auf dem Boden. Ein Berg aus Decken, unter dem sich die Mutter befinden muss. Sie tritt ein, schließt die Tür hinter sich, nähert sich den Decken und beugt sich herunter.
»Mama«, sagt sie.
»Mama, ich bin’s Buchela.«
Der Deckenberg bewegt sich. Die Frau dreht ihr Gesicht, das sie der Wand zugewendet hat, nach oben.
»Buchela!«
Sie stützt sich auf den Unterarmen ab und kommt zum Sitzen.
»Buchela. Dachte schon, du kommst nie nicht mehr. Keine Liebe mehr zur Mama. So lange musste ich warten auf dich.«
Das Mädchen weicht innerlich zurück. Sie hat alles getan, schnell zu ihrer Mutter zu kommen. Warum macht die ihr Vorwürfe?
Und jetzt muss sie sofort zum Kutscher, damit er ihr nicht mit dem Sack davonfährt! »Mama, bin gleich wieder da!«, sagt sie und jagt zur Tür hinaus durch den Flur und die Treppe herunter. Als sie das Fuhrwerk auf der Straße stehen sieht, atmet sie erleichtert auf.
16.
Der erste Tag in Köln ist ein Fest. Buchela bereitet gemeinsam mit der Mutter Bratkartoffeln mit Speck zu. Schließlich sitzen alle in der Küche um den Tisch: Pepito, der Sinto, der ihr die Tür geöffnet hat und Besitzer dieser Wohnung, seine Frau Josepha und deren Töchter. Mamas Gesicht rötet sich vor Freude. »Hab ich’s nicht gesagt. Meine Buchela kommt, wenn ich ruf!« Mama verbrennt sich fast den Mund an den heißen Kartoffeln, die sie gierig herunterschlingt. »Pepito iss! Weißt nicht, wann du wieder so was bekommst«, ermuntert sie den Sinto. Dann wendet sie sich Buchela zu. »Und warum kennst du Pepito nicht? Pepito ist mein Cousin. Schon immer. Du hast ihn gesehen, als du klein warst.« Vorwurfsvoll blickt sie Buchela an. »Große Familie ist immer gut. Hilft weiter. Was Pepito!« Sie schlägt Pepito auf die Schulter. Dann fasst sie selbst beim Essen nach.
Buchela hält sich bei der Mahlzeit zurück. Hat sie nicht die ganze Zeit gut gegessen bei den Häntgens? Sie besitzt zwar kein Gramm zu viel auf den Rippen. Aber sie ist jung und gesund und zäh. Und außerdem betrachtet sie mit Sorge ihren Sack, dessen oberes Ende bereits schlaff auf die restlichen Lebensmittel sinkt.
Читать дальше