Der heutige Sonntag war ein besonderer Tag. Bodo Stern hatte Geburtstag, seinen neunundvierzigsten. Am Nachmittag würde im Haus ein kleiner Empfang für einige wichtige Geschäftspartner, Freunde und Bekannte stattfinden, bei dem sich ein Catering-Service um die Bewirtung kümmerte.
Es war kurz nach acht Uhr morgens. Paul spürte, wie sich das Kribbeln auf seinen ganzen Körper ausdehnte. In seinem Zimmer ging er zum wiederholten Mal von einer Seite zur anderen. Es war so wichtig, dass seinem Vater das Geschenk gefiel. In der Vergangenheit hatte Paul mit seinen Geschenken ein paarmal danebengelegen.
Er muss sich freuen. Diesmal hab ich mir mehr Mühe gegeben.
Übers Internet hatte er ein altes Modellauto der Fima Corgi Toys gekauft. In einem gut erhaltenen Zustand, in dem dieses Modellauto nur noch selten zu bekommen war. Und sogar mit Originalverpackung, die für Sammler so wichtig war.
Papa soll einen schönen Tag verbringen, mit uns, mit mir.
Das gemeinsame Geburtstagsfrühstück mit der Familie im Esszimmerbereich war in knapp zwei Stunden. Pauls Aufgabe bestand darin, die vorbestellten Brötchen vom Bäcker zu holen. Ramona würde den Tisch feierlich decken – und sich quasi um den Rest kümmern. Noah war noch nicht da, er kam mit dem Auto aus Göttingen und würde rechtzeitig am Frühstückstisch sitzen.
Die Übergabe der Geschenke war gegen zehn. Die Spannung war für Paul kaum zu ertragen.
Ich muss eine Spontanprüfung machen, damit er sich über mein Geschenk freut.
Bei wichtigen Vorhaben im Alltag unterzog sich Paul häufig selbst auferlegten Prüfungen. Sein Psychotherapeut hatte sein Verhalten magisches Denken genannt. Das Ganze funktionierte so, dass Paul festgelegte kleine Handlungen ausführte oder sich gedanklich Aufgaben stellte, die es jeweils erfolgreich zu bewältigen galt. Wenn ihm das gelang, erhöhte das deutlich die Chancen, dass sein geplantes Vorhaben klappte.
Er nahm einen Tischtennisschläger und den dazugehörigen Ball in die Hand. Die Aufgabe war klar. Er musste den Ball wechselseitig mit Vor- und Rückhand nach oben in die Luft befördern. Und das zwanzig Mal, ohne dass der Ball einmal den Boden berühren durfte.
Los geht’s!
Früher hatte er oft mit seiner Mutter Tischtennis gespielt, aber das war schon längere Zeit her. Die Spontanprüfungen durften nicht zu einfach sein, um Wirkungskraft zu haben.
… fünfzehn, sechzehn, siebzehn … ja, es klappt!
Doch der Hochmut, vor dem Erfolg zu jubeln, brach ihm das Genick. Beim achtzehnten Mal gab er dem Tischtennisball mit der Rückhand zu viel Schwung, sodass er ihn mit der Vorhand nicht mehr erwischen konnte. Der Ball fiel auf den Boden. Aus!
Noch eine letzte Chance. Sonst hab ich’s wieder verkackt.
Jetzt hatte er nichts mehr zu verlieren. Bei besonders wichtigen Vorhaben war es möglich, eine zweite Chance zu erhalten. Er durfte sich der gleichen Aufgabe ein weiteres Mal stellen. Absolvierte er den zweiten Durchgang mit Erfolg, war der erste Durchgang neutralisiert. In diesem Fall trat die Regel in Kraft, dass Paul noch einen dritten (alles entscheidenden) Versuch zur Verfügung hatte. Danach war keine Wiederholung zur Durchsetzung eines aktuellen Anliegens erlaubt. Das Gesetz der Spontanprüfungen hatte sich Paul nach und nach selbst erarbeitet.
Er konzentrierte sich.
Diesmal kein vorzeitiger Jubel.
Erneut begann er mit der Übung, deren Ausgang für ihn große Bedeutung hatte.
… neunzehn, zwanzig!
Er atmete erleichtert durch.
Der sichere Misserfolg war damit neutralisiert. Paul war wieder auf dem alten Stand wie vor der ersten Spontanprüfung.
Er entschied sich dafür, auf den dritten Durchgang zu verzichten.
*
Der Ablauf des Geburtstagsfrühstücks folgte einem gewissen Ritual. Auf dem Sideboard im Wohnzimmer hatte Bodo Stern die Geschenke von der Familie noch im verpackten Zustand abgelegt. Erst wurde mit den Gästen im Esszimmer gefrühstückt, dann folgte das Auspacken der Geschenke.
Ramonas Bruder Christian Carben war gekommen, mit dem Bodo vor knapp dreißig Jahren zusammen Abitur gemacht hatte. Christian hatte seine Frau Birgit und ihre Töchter, vierzehn und zwölf Jahre, mitgebracht. Mit Ramona, Noah und Paul waren sie heute Morgen zu acht.
Jetzt kam für Paul der Höhepunkt der Geburtstagsfeier. Sein Geschenk. Alle Anwesenden waren vom Essbereich ins Wohnzimmer gegangen.
Bodo packte zunächst die Geschenke von seiner Frau und seinem älteren Sohn aus. Paul stand etwas abseits. Was genau die beiden seinem Vater gekauft hatten, registrierte er kaum. Bodo schien sich zu freuen, nahm Ramona und Noah herzlich in den Arm.
Jetzt folgte Pauls Geschenk. Bodo packte es vorsichtig aus, hielt es lächelnd in der Hand.
Ich habe das Richtige ausgesucht, ging Paul durch den Kopf.
Dann zog Bodo das Modellauto aus der Schachtel, betrachtete es genau. Das Lächeln verschwand vollständig aus seinem Gesicht, stattdessen zog Bodo die Stirn kraus.
„Hast du das Modell doch schon?“, fragte Paul zögerlich nach. „Es ist alles original aus den Sechzigern, Auto und Schachtel. Ich dachte, es fehlt in deiner Sammlung.“
„Ja, aber …“, Bodo zögerte etwas, „leider ist es kein Original, sondern eine Replik. Und die Schachtel ist eine Repro-Box. Ich hoffe, du hast nicht allzu viel Geld dafür ausgegeben.“
Paul stand wie erstarrt. Der erste vergeigte Durchgang seiner Spontanprüfung hätte ihn warnen sollen.
Wieder alles falsch gemacht. Auf einen verkackten Schwindler im Internet reingefallen.
Die folgenden Ereignisse nahm Paul nur wie durch eine schallgedämpfte Milchglasscheibe wahr. Sein Onkel sagte etwas zu seinem Vater, wovon Paul in seiner Verfassung nur einen Satzfetzen mitbekam: „… könntest Pauls Bemühungen mehr wertschätzen.“
Christian ergriff offenbar Partei für Paul. Bodos Entgegnung missfiel Christian, Paul sah verschwommen die Mimik seines Onkels.
Ramona stellte sich schnell zwischen ihren Mann und ihren Bruder, lächelte beide an.
Plötzlich war Paul wieder auf Sendung.
„Vielleicht doch keine so gute Idee, wenn ich mich an der Vorbereitungsgruppe für unser Abi-Treffen beteilige“, sagte Christian zu seiner Schwester.
„Doch, nimm bitte teil“, antwortete Ramona. „Ich freu mich, wenn du da bist. Und insbesondere Paul freut sich auch immer auf deinen Besuch.“
Paul hatte mitbekommen, dass sein Vater eine Vorbereitungsgruppe zur Feier des 30-jährigen Bestehens des Abiturs ins Leben gerufen hatte. Die Gruppe sollte sich erstmals in sechs Tagen, kommenden Samstag, im Bungalow der Sterns treffen. Paul hatte das Gefühl, dass die ehemaligen Schulkameraden seines Vaters Unglück in die Familie tragen würden. Er wollte die Männer auf jeden Fall im Blick behalten.
Kapitel 9
18 Tage vor der Ermordung von P. R.
Kurz vor sechzehn Uhr klingelte es. Besuch für Bodo Stern. Paul hatte in der Einliegerwohnung die Verbindungstür zum Wohnungsbereich seiner Eltern offenstehen lassen. Heute ab siebzehn Uhr sollte das Treffen der Vorbereitungsgruppe für die Abifeier stattfinden.
Bodo öffnete dem Besucher die Tür. Es war keiner der alten Schulkameraden, sondern Ulrich Ammoneit, Inhaber eines Fachbetriebs für Garten- und Landschaftsbau aus Neustadt. Ammoneits Unternehmen war in den nächsten Wochen mit der Umgestaltung des großen Gartens der Familie Stern beschäftigt. Pauls Eltern kannten Ammoneit schon einige Jahre und hatten ihn regelmäßig mit der Pflege ihres Gartens beauftragt. Anfangs ging es nur um den Garten des Ferienhauses, später kam zusätzlich der Garten um den Bungalow dazu.
„Herr Stern, zum Geburtstag nachträglich alles Gute“, sagte der mittelgroße, etwas gedrungen wirkende Gärtner, Anfang fünfzig, und schüttelte Bodo die Hand. „Ich war gerade zufällig in der Nähe bei einem Bekannten und wollte Ihnen kurz persönlich gratulieren.“
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