Seit dem Tod ihres Mannes vor zwölf Jahren wohnte Frau Lübke allein in dem Haus. Sie wollte keine Putzfrau, keinen Pflegedienst und kein Essen auf Rädern. Und sie wollte auf keinen Fall in ein Altersheim. Ihren Sohn und ihre Schwiegertochter bat sie selten um Hilfe („die haben selbst genug zu tun“). Aber mit manchen Dingen des Alltags, wie Instandhaltung des Hauses und Gartenpflege, war sie zuletzt überfordert. „Manchmal ist es schon grenzwertig, wie Oma lebt“, hatte Luisa einmal zu Kilian gesagt.
Die aktuellen Probleme von Frau Lübke waren für Kilian Kleinigkeiten. Der Haustürschlüssel ging schwer ins Schloss, im Bad mussten zwei Glühbirnen der Deckenlampe ausgewechselt werden, und der Receiver fürs Antennenfernsehen war verstellt.
Scheiße, hab echt ein schlechtes Gewissen bei dem, was ich jetzt vorhabe, schoss Kilian durch den Kopf. Und Lissi und die Oma ahnen nicht das Geringste.
Luisa hatte gesehen, dass in der Spüle noch Geschirr stand. Der Geschirrspüler war defekt. Den bekam Kilian nicht wieder hin. Seine Freundin half ihrer Oma unten in der Küche beim Abwasch, während er mit Glühbirnen, Klapptritt und Schraubendreher bewaffnet ins erste Stockwerk ging, um sich der Deckenlampe im Bad zu widmen. In seiner Hosentasche versteckte er ein Paar Latexhandschuhe.
Zunehmend machten sich Gedächtnisausfälle bei der alten Dame bemerkbar. Er wusste von Luisa, dass Frau Lübke bei ihrer Bank immer persönlich tausend Euro auf einmal abhob, das Geld in der Handtasche nach Hause trug und dort in einer Kassette deponierte, versteckt zwischen der Wäsche im Schlafzimmerschrank. Dahinter steckte die Idee, stets ausreichend Bargeld im Haus zu haben, da Frau Lübke überhaupt nicht mehr richtig einschätzen konnte, was ein Einkauf sie kosten würde. Es war wohl auch schon vorgekommen, dass sie sich erneut Geld von der Bank geholt hatte, obwohl das Bargeld zu Hause bei Weitem noch nicht aufgebraucht war. Oder dass sie größere Summen Geld verlegt oder verloren hatte. Allerdings wollte sie sich von ihrem Sohn keinesfalls in ihre Finanzen hineinreden lassen, obwohl sie den Überblick völlig verloren hatte.
Die Geldkassette, ich hoffe, ich finde sie problemlos.
Kilian streifte sich die Handschuhe über (falls doch später die Polizei ins Spiel kam) und öffnete vorsichtig die Tür zum Schlafzimmer, das neben dem Bad lag. Luisa und ihre Oma unterhielten sich in der Küche.
Die Frau ist alt und hat mehr Geld, als sie braucht, rechtfertigte er sich in Gedanken. Das Erbe ihres Mannes und die monatlichen Einnahmen ihrer vermieteten Wohnungen. Ich brauch es umso mehr. Und sie merkt nicht, wenn was fehlt.
Er betrat das Schlafzimmer, in dem noch immer ein Doppelbett stand. Zum Fußende eine Schrankwand im Stil der Siebzigerjahre.
Hier sollte ich eigentlich fündig werden.
Er öffnete die Schranktüren.
Wo ist die verdammte Geldkassette?!
Auf keinen Fall durfte er im Schrank Unordnung verursachen, sonst schöpfte die Alte sofort Verdacht.
Dauert länger als gedacht!
Von unten rief Luisa: „Hast du alles, Kilian, kommst du klar?“
Sie darf auf keinen Fall raufkommen!
„Alles in Ordnung!“, antwortete er. „Keine Probleme!“
Er musste sich beeilen. Die Deckenlampe im Bad wartete noch auf ihn. Im letzten Teil der Schrankwand entdeckte er die Geldkassette hinter mehreren Stapeln Handtüchern. Eine simple graue Metallkassette mit Deckelgriff, wie man sie in jedem Baumarkt fand – und der Schlüssel steckte wie erwartet.
In der Kassette waren ungefähr 1300 Euro. Davon schob er sich achthundert Euro unter seinen Pullover. Danach brachte er alles wieder in die alte Ordnung.
Die beiden Frauen waren weiterhin in der Küche in ein Gespräch vertieft, wobei Luisa etwas lauter sprach, als sie es sonst tat.
Das Auswechseln der Glühbirnen im Bad ging zum Glück ruckzuck.
Zu Luisa und ihrer Oma sagte er später allerdings: „Hat etwas länger gedauert, weil eine von diesen alten Schrauben an der Lampe nicht richtig mitgespielt hat. Aber ich hab alles erledigt.“
Luisa umarmte und küsste ihn: „Hab ich nicht einen tollen Freund, Oma?!“
Kapitel 8
24 Tage vor der Ermordung von P. R.
Paul war letzten Monat zwanzig geworden. Ein runder Geburtstag, der ihn in eine neue Lebensphase führen sollte. Aber an seiner Lebenssituation und der seiner Familie hatte sich nichts Wesentliches geändert. Nach außen stellte seine Familie etwas Besonderes dar, insbesondere seine Eltern und Noah, sein vier Jahre älterer Bruder. Hinter den Kulissen hatte jeder seine Eigenheiten, die Paul an manchen Tagen zu schaffen machten.
Sein Vater Bodo Stern war ein bekannter Unternehmer, dem eine niedersachsenweite Spielhallen-Kette mit Namen „Glücks-Stern“ gehörte. Privat sammelte er Kinderspielzeug und Modellautos, konnte in seiner (wenigen) Freizeit komplett in die Welt seiner Modelleisenbahn eintauchen.
Ramona Stern, Pauls Mutter, arbeitete Teilzeit als Rechtsanwältin in einer angesehenen hannoverschen Anwaltskanzlei. Seit Jahren hatte sie eine Art „Handy-Phobie“. Sie besaß zwar ein Mobiltelefon, trug es jedoch meistens nur ausgeschaltet mit sich herum. Lediglich im Notfall, zu bestimmten dienstlichen Anlässen oder wenn sie jemanden konkret anrufen wollte, schaltete sie es ein. Ramona lehnte es konsequent ab, immer und überall erreichbar zu sein. Und ihre Umgebung hatte diese konsequente Haltung hinnehmen müssen, was das Leben von Pauls Mutter bis zu einem gewissen Grad entschleunigte.
Noah Stern studierte inzwischen in Göttingen im achten Semester Medizin. Er war ein Chamäleon, das sich stets perfekt den Anforderungen seiner Umgebung anpasste. Besonders seinem Vater hatte er es stets recht machen können, was Paul nie richtig gelungen war.
Paul sah sich selbst als das am weitesten außenstehende Familienmitglied. Er machte verrückte Sachen, an die er sich später nicht erinnern konnte. Ein Ventil, damit umzugehen, waren seine Mystery-Geschichten. Er überlegte, demnächst an einer weiteren Story zu schreiben, seiner dritten.
In der Medizinischen Hochschule Hannover absolvierte er ein Freiwilliges Wissenschaftliches Jahr. Dort waren die dissoziativen Zustände bisher nicht aufgetreten. Insofern wussten die Mitarbeiter in der MHH nichts von seinen psychischen Problemen.
Harmonie in der Familie, das hatte für Paul den größten Wert. Und zwar nicht nur für ihn. Paul wusste, dass Harmonie für seine Eltern und Noah den gleichen Stellenwert hatte.
Seine Mutter hatte öfters für ihn gelogen, wenn Paul als Junge etwas angestellt hatte, damit sein Vater nichts davon erfuhr und heftiger Streit ausblieb. Paul wiederum hatte Geheimnisse für seine Mutter bewahrt, um die harmonische Beziehung seiner Eltern nicht zu gefährden.
Seit fünfzehn Jahren lebte er mit seinen Eltern und seinem Bruder in einem großzügigen Walmdachbungalow mit Einliegerwohnung im hannoverschen Stadtteil Isernhagen-Süd. Wobei sich die Zwei-Zimmer-Einliegerwohnung in einem separaten Teil des Bungalows befand, der vor zehn Jahren neu angebaut worden war. Durch eine Verbindungstür konnte man von einem Teil des Bungalows in den anderen gelangen, dabei verfügte jeder Gebäudeteil über einen eigenen Eingang. In der Einliegerwohnung hatte Oma Ilse, Vaters Mutter, gewohnt. Sie war von ihrem Mann getrennt und litt zunehmend an einer Sehbehinderung. Vor zwei Jahren musste sie wegen einer schweren Demenzerkrankung in ein Pflegeheim umziehen. Danach bekamen Paul und Noah die Zimmer in der Einliegerwohnung, wobei Noah nur noch höchst selten in Hannover war und die meiste Zeit in Göttingen verbrachte, weil er auch außerhalb der Lehrveranstaltungen in einem Göttinger Krankenhaus arbeitete. In Noahs altem Kinderzimmer hatte Vater jetzt dauerhaft seine Modelleisenbahn aufgebaut. In Pauls Kinderzimmer standen Mutters Fitnessgeräte, wie Crosstrainer und Laufband.
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