Enzo duzte mich, freute sich sehr, endlich einmal wieder für einen Landsmann die Mikrofone und Regler zu betätigen, lud mich mehrfach zum Mittagessen ein, in einem einfachen Arbeiterlokal beim Gemüsemarkt in der Rue Poncelet, und, was viel wichtiger war, er hatte mich, wie er unumwunden zugab, von den ersten Stunden an in sein Herz geschlossen.
Wie ein Familienmitglied behandelte er mich und ging davon aus, dass auch ich ihm grenzenloses Vertrauen schenken würde. Kaum war ich bei ihm im Studio erschienen, ließ er, noch ein wenig übernächtigt, alles stehen und liegen, brachte mir Kaffee, erzählte mir von seiner Familie in Catania, die er selten sah, und von seiner Flamme, einer drallen und pausbäckigen Blonden. Von der er mir eine verblichene, an den Ecken eingerissene Fotografie zeigte und die, wie er vorgab, als zersägte Dame in einem Variété am Pigalle auftrat. Auch bei ihr, bei Nathalie, schien es sich um ein Phantom zu handeln, denn nie stellte er sie mir vor. Und in seine kleine, angeblich so gemütliche Wohnung im Marais bat er mich auch nicht.
Lieber versorgte er mich mit Tratsch und Nachrichten.
„Sandro, hast du eigentlich mitbekommen, dass gestern Stalin gestorben ist?“, rief er, schon bei unserer zweiten Begegnung, ganz aufgeregt und hielt mir die Titelseite des Figaro unter die Nase.
Als er merkte, wie verdutzt ich ihn anschaute, weiteten sich auch seine Augen.
„Und nicht nur das!“, ereiferte er sich. „Stell dir vor, auch Prokofjew ist tot! Beide am selben Tag!“ Darüber berichteten die Pariser Tageszeitungen wie Le Monde und France Soir natürlich nur unter ferner liefen.
Ich wusste auf die Schnelle kaum, welche Nachricht größere Besorgnis bei mir auslösen sollte. Aber wenn ein Komponist, dessen Werke ich verehrte und auch gerne öffentlich vortrug, das Zeitliche segnete, war das für meine empfindsame Pianistenseele immer eine beklagenswerte und auch unverständliche Nachricht.
Doch Enzo war kein Kind von Traurigkeit. Er fand, dass ich nicht die geringste Ahnung von Paris hatte. Was sich seiner Meinung nach schleunigst ändern musste. Und er und nur er, so hatte er bereits entschieden, ohne meine Einwilligung abzuwarten, würde dafür sorgen. Alles, was ich zu tun hatte, war, ihm zu folgen und mitzumachen – und darin war ich ja geübt. Jeden Abend fing er mich vor meinem Hotel ab und führte mich in die verborgensten Winkel seiner Lieblingsviertel.
Bis in die frühen Morgenstunden waren wir unterwegs. Enzo nahm mich mit in Cabarets, Puffs, Billardhöhlen, Nachtschwärmer-Lokale und, wenn auch die dichtmachten, in stickige Kellerkneipen ohne Schild an der Eingangstür und ohne Klingel, in die man mithilfe eines bestimmten Klopfzeichens hereingelassen wurde und in denen schwarze US-Musiker bis zum Umfallen höllisch guten Bebop spielten. Dutzende von Paaren tanzten dort im Tabaknebel eng an eng auf zwanzig oder dreißig Quadratmetern, bei den langsamen Nummern auch Männer mit Männern und Frauen mit Frauen. Zu trinken gab es wenig, zu essen so gut wie nichts.
Am Ende, wenn wir nicht links der Seine im „Tabou“ strandeten, landeten wir immer in der Rue de Lappe, gleich hinter der Bastille. Rechts vom Fluss. Dort, in der „Boule Rouge“, schenkte ein alter, gichtkranker Bretone Rum in klitzekleinen Gläsern und starken Kaffee in Blechbechern aus, ein Teller mit fettigen Würstchen wurde herumgereicht, aber niemand griff zu, Schnapsleichen lagen unter den Tischen, im Hinterzimmer spielten Lastwagenfahrer Poker, es roch nach Erbrochenem und der kalten Asche von Gauloises.
Es war eine Reise in die Pariser Unterwelt. Nirgendwo zahlten wir Eintritt oder mussten anstehen; überall schien man uns zu erwarten. Von Nathalie gab es auch weiterhin keine Spur. Aber Enzo, mein heiterer Charon, hatte viele andere Freundinnen. In jeder Bar mindestens eine. Frauen ohne männliche Partner oder Begleiter. Gott weiß, womit er sie bestach oder sie sich gefügig machte.
Manchmal sah ich Geldscheine von einer Hand in die andere wandern. Dann wieder in die Gegenrichtung. Drogen waren wohl nicht im Spiel. Nur konnte man sich da so sicher sein? Manchmal sah ich ihn mit einem der Mädchen im Labyrinth eines Untergeschosses verschwinden; eine halbe Stunde stand Enzo dann lachend und schwer atmend wieder vor mir.
Nie verstand ich, was genau sich da abspielte. Nie sagte er mir, ob wir es mit Huren zu tun hatten oder mit Künstlerinnen. Vielmehr, so war mein Eindruck, mit Lebenskünstlerinnen oder Überlebenskünstlerinnen.
„Nimm sie dir“, war das Einzige, was er mir auftrug, wenn er bemerkte, wie ich einer von ihnen mit den Augen folgte. „Sie gehören uns beiden.“
Lange Zeit hörte ich gleich wieder weg, wenn er so daherredete. Und irgendwann, selten, manchmal, regelmäßig, griff ich tatsächlich zu.
Es war ja nichts dabei.
Einige von Enzos Freundinnen konnten tanzen oder singen, einige trugen nur einen Fummel, einige wussten seinen Namen nicht oder benutzten einen anderen. Anderen fehlten fast alle Zähne, andere hatten wunderschöne Porzellangesichter, andere trugen Perücken. Einige ignorierten mich, einige umschmeichelten mich, einige griffen mir noch auf der Straße in den Schritt und stießen mir ihren heißen Atem ins Gesicht, einige zerkratzten mir mit ihren langen, messerscharfen Fingernägeln den Rücken, wenn ich mich über sie warf und sie verzweifelt zu lieben versuchte. Keine von ihnen ahnte, dass sie sich von einem weltberühmten Pianisten beschlafen ließ, der ihr Paris mit dem Mittelmeer seiner Kindheit gleichsetzte. Keine von ihnen wollte Geld.
Einige taten alles dafür, dass man sie gleich wieder vergaß, andere sah man nie wieder, und manche blieben einem im Gedächtnis haften wie eine besonders hohe Welle, ein gelungener Zweiunddreißigstel-Lauf oder ein bemerkenswertes Wort. Manche wollte man einfach nur minutenlang betrachten, so attraktiv und verträumt waren sie, so verschlagen und so unergründlich, und darauf warten, dass sie sich in einen verknallten. Tomber amoureux, sagten die Franzosen – in die Liebe hineinfallen, hineinstolpern, hinunterstürzen. Das hatte Enzo mir beigebracht. Und gleich hinterhergeschoben: „Fall ja nicht auf sie rein. Mach besser einen Rückzieher.“ Keine Fortsetzung!
Wenige dieser Mädchen gab es, die keine Fallenstellerinnen waren. Die den Mut hatten, die Rollen zu tauschen und auch zurückzustarren. Die sich auf mich konzentrierten. Die in meinem Gesicht wie in einer aufgeschlagenen Partitur lasen, die unsere stummen Flirts wie mit einer inneren Kamera festhielten und darauf achteten, dass ich mich nicht außerhalb der Reichweite ihres Suchers befand. Die darauf spekulierten, dass unsere Blicke sich vereinigen und nie mehr aus ihrer Umklammerung lösen würden.
Die waren mir die liebsten.
Und eine davon warst du, Géraldine.
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