Jens Rosteck
Geschichten einer unbezähmbaren Küste
© 2020 by mareverlag, Hamburg
Covergestaltung Nadja Zobel, Petra Koßmann, mareverlag
Coverabbildung Orlando Hoetzel
Typografie (Hardcover) mareverlag, Hamburg
Datenkonvertierung E-Book Bookwire
ISBN E-Book: 978-3-86648-388-0
ISBN Hardcover-Ausgabe: 978-3-86648-625-6
www.mare.de
Kein Mensch sollte durch das Leben gehen, ohne sich einmal der gesunden, ja langweiligen Einsamkeit auszusetzen, einer Situation, in der man allein auf sich selbst angewiesen ist und dadurch seine wahre und verborgene Stärke kennenlernt.
Jack Kerouac, Alone on a Mountaintop aus Lonesome Traveler
für Dierk Rabien avec toute ma reconnaissance
GRUNDSTEINE – AUFBRUCH UND INNEHALTEN GRUNDSTEINE – AUFBRUCH UND INNEHALTEN
Alanis oder Die Freiheit
Linus oder Die Angst
KALEIDOSKOP – ANNÄHERUNGEN AN EIN PHÄNOMEN
»Into the Wild«
»The Long and Winding Road«
MOSAIK – PIONIERE DER EINSAMKEIT
Robinson oder Die Warnung
Pepé oder Der Tod
Henry oder Die Weisheit
Michael oder Die Stille
Joan oder Die Zuversicht
Jack oder Die Flucht
Oola oder Das Verschwinden
Liz oder Die Verklärung
SCHLUSSSTEIN – VOM NACHDENKEN UND ZUHÖREN
Ich oder Das Dharma
ANHANG
Auswahlbibliografie
Ausgewählte CDs, LPs und Musikempfehlungen
Zitatnachweise
GRUNDSTEINE – AUFBRUCH UND INNEHALTEN
And I was thinking to myself:
»This could be heaven or this could be hell.«
Eagles, Hotel California
Beginnen wir mit einer richtigen kleinen Ouvertüre. Mit einem kurzen Film, der zugleich auch ein Lied ist. Ein Popsong mit zärtlichem Country-Touch, erst wenige Jahre alt. Trotz seines angenehmen, lockeren Grundtempos nicht glamourös oder anstachelnd, sondern beiläufig erzählend, leicht und in sich ruhend. Das unauffällige Lied einer schmalen, glücklich wirkenden und fortwährend lächelnden Frau: nicht mehr ganz jung, doch sehr präsent. Mitten im Leben stehend. Ganz allein, am Steuer eines Vintage-Straßenkreuzers, kurvt sie einen offenbar nur von ihr befahrenen Highway am Ozean entlang. An Abgründen vorbei, auf Meereshorizonte zu, in einer Gegend ohne Behausungen oder irgendein Anzeichen städtischen Lebens, in einer Gegend, in der allein die Natur dominiert.
Wobei die singende Fahrerin jede zurückgelegte Meile, jeden Ausblick in vollen Zügen zu genießen scheint. Unterwegssein als Selbstzweck, Fortbewegung durch unberührte Einsamkeit als Sinnstiftung. Um dann, ihre Rolle wechselnd, als Hitchhikerin, mit Gitarre und Umhängetasche als Gepäck, an einer staubigen Wegbiegung auf eine Mitfahrgelegenheit zu warten. Oder einige Schnitte weiter ausgelassen an einem menschenleeren Strand entlangzutanzen, ihre dunkle Mähne dem Spiel des Windes ausliefernd. Oder ihren Blick in die Baumwipfel mächtiger Redwoods zu heben, in deren Geäst sich das morgendliche Sonnenlicht bricht. Oder sich, mit strahlendem Lachen, auf einem sattgrünen Rasen zu wälzen. Oder, als Gipfelstürmerin das ganze Universum umarmend, mit weiten Sprüngen dem Pazifikhimmel zuzustreben. Immer ist es ein und dieselbe Sängerin, im Hippie-Outfit, mit Schlapphut, Halsketten und Cowboystiefeln, die hier ihren Song abspult, sich von der Kamera feiern lässt und uns on the road in Dutzenden von Einstellungen ihren Traumort vorführt.
Der Star dieser musikalisch-filmischen Miniatur ist hingegen weniger sie selbst, Alanis Morissette, die diesen Titel 2012/13 als Bonustrack ihrem Album Havoc and Bright Lights hinzugefügt hat, sondern ein weltbekannter Küstenstreifen von schroffer Schönheit. In ihrem Video wird er wie in einem Super-8-Film ins richtige, ein wenig vergilbte Licht gesetzt. In ihrem Lied wird er ein ums andere Mal genannt, wie ein Mantra wiederholt, ja heraufbeschworen: Big Sur.
Der gleichnamige Song der kanadischen Liedermacherin, grundiert von Gitarren-Fingerpicking und einem unaufgeregt pulsierenden Beat, wie auch der dazugehörige Clip – ein echtes Roadmovie! – präsentieren sich Uneingeweihten wie Kennern als Quintessenz aller Big-Sur-Seligkeit. Sämtliche Klischees und Stereotype dieser mythischen Gegend sind hier versammelt und machen doch unbändige Lust, sich sofort in dieses raue kalifornische Paradies zu begeben – um unbekümmert zu leben und Freiheit verspüren zu dürfen: wie auf einer maritimen Route 66. Um es, nostalgieversessen, Alanis nachzutun. Ihr und uns begegnen Surfer und Aussteiger, Tramper mit gerecktem Daumen und Leute, die sie nach dem Weg fragt, Möwen und Raben. Straßen über Straßen ohne Gegenverkehr, verwaiste Hügel, Wiesen und Felsgrotten. Wir erblicken kilometerweite Strände, Klippen, Sonnenauf- und -untergänge zuhauf. Sixties-Feeling kommt auf. Momentaufnahmen und Versatzstücke: Klampfe in der Hand, Raubvögel, eine uralte Schreibmaschine, Mammutbäume, Berggipfel, Wälder und Buchten im Gegenlicht. Blumenkinder-Idyll, freie Liebe, ein im Wind flatterndes, ellenlanges Manuskript, das einer abgewickelten Klorolle gleicht oder auch einer Fahne oder einem Pamphlet. Gemeinsames Singen in der Dämmerung, Gespräche mit hobos , qualmende Joints, ein bärtiger Mann, der seine Finger zum Peace-Zeichen spreizt. Gesteinsformationen, von der Flut zurückgelassen und in kleine Inseln inmitten von nassem Sand verwandelt, von der Gischt umspült. Holzhütten auf Vorsprüngen mit atemberaubender Aussicht. Aneinandergereihte Briefkästen, allein auf weiter Flur.
Bilder wie Polaroid-Schnappschüsse, intensiv, für wenige Sekunden aufflackernd, verwackelt und kurz darauf schon ausgeblichen. Und mittendrin, ohne ein Gegenüber, die Singer-Songwriterin mit ihrem indianischen Äußeren und langen, im Meerwind wehenden Haaren. Kurz: eine Frau, die sich in einen Landstrich verliebt hat. An dem sie sich nicht sattsehen, von dem sie nicht genug bekommen kann. Und die, ungeschminkt und hoffnungslos romantisch, daraus eine wunderschöne Ode an diese majestätische Küste und die an ihr entlangführende Straße – den Highway One – macht. Big Sur .
Vier Minuten Sehnsuchtsmusik, vier Minuten appetitanregender Kurzfilm. Ein Ständchen. Ein kleines Fest der Lebenslust also, ein Bekenntnis zu einem Ort und einer Region, in der außergewöhnliche Glücksmomente gleich im Sekundentakt möglich scheinen. Am Anfang, noch bevor die Gitarre einsetzt und Alanis’ Stimme anhebt, lauschen wir für eine Weile der beeindruckenden Brandung, bekommen gigantische Wogen zu sehen, gegen die jeder Wellenbrecher machtlos wäre, spüren die Kraft des Meeres, das sich, laut Songtext »mit maskuliner Urgewalt«, in Felsnischen und an Steilküsten austobt, die Strände überschwemmt und den Klippen ordentlich zusetzt, eine fauchende, schwer bezähmbare Bestie. Die Windschutzscheibe und der Rückspiegel ihres in die Jahre gekommenen Flitzers dienen der Interpretin als Fenster in eine magische Welt. Und der Liedtext selbst setzt die entscheidenden Assoziationen frei, klappert all die Ausnahmegestalten ab, die Big Sur in der Vergangenheit ihre Aufwartung gemacht haben, damit es zu einer solchen Berühmtheit werden konnte. Eine ganze Ahnenreihe wird von Alanis ins Feld geführt, hemmungsloses Namedropping abgespult. Jack Kerouac und Henry – Miller natürlich – sind ihre Gewährsleute, Anaïs – Nin selbstverständlich – und Richard Brautigan ihre Garanten. Big-Sur-Urgestein. Ganz unbescheiden fügt sie sich und die früheren prominenten Bewohner und Besucher dieser Küste zu Paaren zusammen und nennt sich dabei zu allem Überfluss auch noch zuerst: Es geht um eine erfolgreich stattgefundene Ichfindung.
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