Das größte Problem wäre allerdings Ulf. Sigmar konnte sich seinen Mann nicht dauerhaft auf dieser Insel vorstellen. Dessen Hobbys waren Sport, Lesen, sein Schützenverein und der Braker Bridgeklub. Darauf würde er nicht verzichten wollen. Sigmar war sich sicher, dass Ulf eher auf ihn verzichten würde. Zumal jetzt, da Ulf offensichtlich davon überzeugt war, dass er mit einem Mörder zusammenlebte. Also bis vorhin. Jetzt lebte er in Zimmer 7.
Kräftiger Beifall riss ihn aus seinen Gedanken. Der Film war zu Ende. Der ältere Herr verabschiedete die Zuschauer mit freundlichen Worten. Sigmar erhob sich schwerfällig. Seine Knie mussten erst wieder ans aufrechte Stehen gewöhnt werden.
Vor dem Bummert holte er tief Luft. Es war nicht einmal ganz dunkel, also viel zu schade, jetzt bereits sein Zimmer aufzusuchen. Was also war die Alternative?
Ein Bier im Käpt’n BRASS? Das wäre es doch. Es war nicht weit. Nichts war eigentlich weit auf dieser Insel.
Schon aus der Ferne hörte er fröhliches Gelächter. Es schien gut etwas los zu sein. Aber wie sollte es auch anders. Es war wunderbares Wetter und die Insel voller Gäste. Als er sich näherte, stellte er jedoch fest, dass die Stimmen nicht aus der Kneipe kamen, die er von früher so gut kannte. Die gab es nicht mehr. Dort war alles dunkel. Aber ein Haus weiter, wo sich das Lebensmittelgeschäft befunden hatte, standen nun Stühle vor der Tür, und ein buntes Schild zeigte an, dass sich dort das Sturmeck befand. Nun gut, dann eben hier. Er stieg die paar Stufen hoch und drängte sich an einem Mann vorbei, der beinahe den ganzen Eingang versperrte. »Entschuldigung, wenn ich mal bitte …« Verblüfft blieb er stehen. Das gab es nicht. »Freddy? Bist du es wirklich?«
Der Mann zögerte kurz, dann nickte er. »Ich weiß, wer du bist. Auch wenn du in den letzten Jahren ein paar Kilo zugenommen hast.« Freddy nahm einen tiefen Zug von der Zigarette und ließ sie fallen.
»Ey, hier stehen genug Aschenbecher rum«, rief jemand erbost.
»Ist ja gut.« Freddy bückte sich, nahm den Stummel und drückte ihn im Aschenbecher aus. »War nur ein Versehen.«
»Das mit den Kilos ist den vielen Jahre auf dem Bürostuhl geschuldet«, erklärte Sigmar, »aber ansonsten bin ich ganz der Alte.«
»Na prima. Dann können wir beide morgen ordentlich abtanzen, wenn die Emilys spielen. Aber dass du mir nicht wieder das Mischpult umwirfst!«
»Daran kannst du dich erinnern?«, fragte Sigmar ungläubig.
»Ich kann mich sehr genau an dich erinnern. Vielleicht liegt es daran, dass ich seitdem beinahe jeden Tag an dich und den schönsten Sommer meines Lebens gedacht habe. Komm her, lass dich drücken. Eine geile Woche kann beginnen.« Gleich darauf lagen sie sich in den Armen. Sigmar merkte nicht, dass jemand die Situation genau beobachtete, sich dann umdrehte und verschwand.
»Meine Güte, so spät war es gar nicht.« Sandra goss sich eine Tasse Kaffee ein und stellte die Kanne energisch zurück auf die Korkunterlage.
Nein, war es nicht. Röder musste seiner Frau zustimmen. Trotzdem war er hundemüde und das zu recht, wie er fand. Brinkmann und Haltegrund waren erst nach genauer Inaugenscheinnahme der Galerie und des Zimmers von Wurzellage am späten Nachmittag abgefahren. Der Abtransport der Leiche zur Obduktion nach Oldenburg hatte sich hingezogen, und die Befragung der beiden Männer hatte nichts Neues ergeben, jedoch viel Zeit gekostet. Nur eine Sache war ihm aufgefallen. Nämlich dass der eine, Martens, offensichtlich seinem Gatten, dem Benedikt, nicht über den Weg traute. Beziehungsweise immer Erklärungen losließ, die Benedikt nicht unbedingt ins beste Licht rückten. Wenigstens hatten sie zugesagt, auf der Insel zu bleiben. Sollten sie nun doch abhauen, wusste die Polizei, wo sie suchen musste.
Erst spät hatten sie ein schnelles Abendessen zu sich genommen. Sandra hatte ständig auf die Uhr geschaut. Er hatte es kaum geschafft, seine Uniform aus- und die Zivilklamotten anzuziehen, dann mussten sie auch schon los. Der Tanzkurs sollte nicht ohne sie anfangen. Das zumindest war Sandras Wunsch. Ihm blieb keine Wahl. Bei dem Gedanken an die schnellen Bewegungen taten ihm schon auf der Fahrt zum Hotel Strandhof die Gelenke weh.
Röder rieb sich die Schulter. Einmal hätte er sie beinahe ausgerenkt. Aber auch da hatte Sandra keine Gnade gekannt. Wieder gähnte er.
Sandra schüttelte nur den Kopf. »Dein Job muss gestern ja ungemein anstrengend gewesen sein.«
Er berichtete, was sich in der Galerie zugetragen hatte und dass sie bis jetzt keinen Anhaltspunkt hatten, ob der Künstler eines natürlichen Todes gestorben war.
»Hat Johannes wieder zugeschlagen?«, fragte sie.
»Nein. Der ist erst seit gestern Abend wieder auf der Insel«, sagte Röder.
Sandra überlegte. »Das stimmt nicht. Den habe ich gestern Morgen bereits gesehen. Ich habe für den Laden ein paar Sachen vom Hafen geholt. Die Baltrum I legte gerade an, und Johannes kam von Bord. Da bin ich mir ganz sicher.«
Was war das? Hatte Meta den Jungen nicht erst mit der Abendfähre erwartet? Hatte sie gar nicht mitbekommen, dass Johannes bereits auf der Insel war? Aber wo hatte er gesteckt, als sie den Laden auf den Kopf gestellt hatten? Der Sache musste er unbedingt nachgehen.
»Arndt und Wiebke kommen übrigens bereits am Donnerstag. Sie wohnen bei Henning. Wir treffen uns am Freitag mit Wiebke im Laden, wegen neuer Lieferungen.« Sandra schnitt ein Brötchen auf und musterte das Innenleben kritisch, dann roch sie daran. »Eine neue Sorte. Zum Aufbacken. Mal sehen, wie das läuft.«
Sandra betrieb seit zwei Jahren mit ihrer Freundin einen Bioladen, der sehr gut angenommen wurde. Obst und Gemüse bekamen sie von Kleemanns Hof, dem Zuhause von Arndt und Wiebke in der Krummhörn. Arndt war sein bester Freund und auch Kommissar in Aurich. Zwischenzeitlich hatte er sich für ein Jahr eine Auszeit genommen und sich um den Hof gekümmert, doch dann war er wieder in seinen alten Beruf eingestiegen. »Aber sie haben nichts davon erzählt, dass sie hier Party im Festzelt machen wollen?«
»Was denn wohl sonst? Du weißt genau, dass das der Grund ihres Kommens ist!« Sandra schob ihren Stuhl zurück und stand auf.
Er grinste. Wusste er doch genau, womit er seine Frau ärgern konnte.
»Und dass das klar ist: Wir gehen auch zum Dünensingen, und Karten für die Wahl der Miss Baltrum im Strandhotel habe ich ebenfalls besorgt.«
Schon war seine Frau aus der Küche verschwunden. Amir schaute ihr bedauernd hinterher. Röder räumte die restlichen Dinge vom Tisch, dann ging er hinüber zur Wache. Daniel erwartete ihn schon. »Was gibt es Neues?«, fragten sie fast gleichzeitig.
Daniel lachte. »Vom Festland haben wir bis jetzt keine Erkenntnisse erhalten. Ich schätze, die Obduktionsergebnisse werden gegen Mittag hier auflaufen. Und bei dir?«
»Ich merke meine Knochen vom Tanztraining, aber sonst geht es mir gut. Ich will gleich mal zu den Damen Paulsen.« Er erzählte seinem Hilfssheriff, dass Ännes Sohn wohl doch schon länger auf der Insel weilte. »Außerdem will ich die beiden fragen, ob sie inzwischen wissen, wer die Pferdekacke ans Galeriefenster geschmiert hat. Und dann war da noch etwas: Als ich Meta fragte, ob sie Wurzellage schon vor seinem Erscheinen hier auf der Insel gekannt habe, war ihr ›nein‹ etwas zu spontan. Ich mag mich täuschen, aber da werde ich nachhaken.«
»Gut. Ich drehe mal eine Runde und schaue, ob jemand mit einem sehr unerzogenen Kampfhund unterwegs ist. Ich meine, dass ich gestern Abend bei einem Strandspaziergang so etwas gehört habe. Angeleint soll der auch nicht gewesen sein«, sagte Daniel.
»Dann sehen wir uns später wieder hier.« Röder holte sein Rad aus dem Gartenhäuschen. Es war nur ein kurzer Weg zum Haus der beiden Schwestern, doch es war gut was los auf den Straßen. Wie üblich um diese Jahreszeit. Er stellte sein Rad vor dem großen Schaufenster ab. Im Inneren sah er Meta mit einem Bild im Büro verschwinden. Er klopfte. Gleich darauf öffnete sie.
Читать дальше