30 Jahre später geht’s mir immer noch so. Die »Christina« bin ich nun, die Frau des Bierkönigs. Bierkönigin, ich? Ich mag das Zeug nicht. Überhaupt Alkohol: Bei einem Glas Pinot Grigio hört es bei mir auf. Das kommt aus meinen Zeiten als Model. Da brauchte es Disziplin. Ich habe Mode getragen auf den Laufstegen der Welt. Armani, Lagerfeld, Dior. Zuerst Mailand, dann Paris, schließlich New York. Ich modelte, bis ich Robert kennenlernte. Grad noch rechtzeitig haben wir uns getroffen, wie einige meiner zickigen Kolleginnen betonen. Das Schmuckstück hatte mit 30 Jahren schon etwas Glanz verloren. Da konkurrierst du dich plötzlich mit 17-Jährigen aus der Ukraine. Noch dünner, noch ehrgeiziger, noch skrupelloser. Ich spürte: Meine Zeit in diesem Geschäft ist endlich. Und mein Gefühl hat mich noch selten betrogen.
Er kam jedenfalls in einem passenden Moment in mein Leben. Robert war eigentlich noch in Trauer wegen seiner verstorbenen Frau. In den Bergen abgestürzt, hat er erzählt. Ein Unfall. Dumm gelaufen. Da kam ich ihm gerade recht. Trauerarbeit, wenn Sie wissen, was ich meine. Ob wir uns geliebt haben? Ach. Was für eine sentimentale Frage! Wir waren beide zur richtigen Zeit am selben Ort. Zwei Ertrinkende, die an der Oberfläche blieben, weil sie sich aneinander festhielten. Ich half ihm über seine Trauer, er mir über meine verblühende Schönheit hinweg. Zusammen oben bleiben und nicht untergehen. Das war damals so und das ist auch heute noch so. Von der großen Liebe zu sprechen, wäre sicher übertrieben. Wir können nicht mit, wir können aber auch nicht ohneeinander. Für mich hat sich wenig geändert. Ich bleibe ein Schmuckstück. Werde herumgereicht von Robert. Manchmal glänze ich auch heute noch dazu.
Zwei Tage nach dem Mord
»Wir haben da was!« Lisa Lehmann tönte schon beinahe fröhlich, als Herbert Hutter den Posten betrat. An einem Samstag zu arbeiten machte ihr, im Gegensatz zu ihren Kolleginnen und Kollegen, wenig aus. Im Gegenteil: Es lenkte sie etwas davon ab, keinen Freundeskreis zu haben, keine Einladungen für Partys, keine beste Freundin zum Shopping.
»Ah ja, gut so«, war alles, was sie ihrem Chef entlocken konnte. Der hängte seinen Mantel an einen wackligen Kleiderständer, startete seinen PC auf und belohnte die Praktikantin vorläufig mit keiner weiteren Aufmerksamkeit. Er rückte Bleistift, Locher und Bostitch in den rechten Winkel. Die Putzfrau, die sein Pult abstaubte, störte allabendlich die Symmetrie. Immerhin lagen die Tageszeitungen sauber gefaltet auf seinem Pult. Während sein Computer mit dem Installieren von Updates beschäftigt war, sah sich Hutter die Presse durch. Überall waren sie auf der Frontseite, sogar in den überregionalen Blättern. Eine Tote im Museum hatte zweifellos Glamour. Leider ließ sich das von ihm auf den Bildern nicht sagen. Er sah mit der glänzenden Stirn, dem zerknitterten Hemd und der schief sitzenden Krawatte aus wie eine billige Kopie des berühmten TV-Inspektors Columbo. Außer dass bei dem nie Schweißtropfen zu sehen waren. »Na ja«, meinte Hutter tröstend zu sich selbst und schaute mit leerem Blick auf den Bildschirm, der immer noch keine Arbeitsoberfläche zeigte.
»Möchten Sie einen Kaffee?« Lisa Lehmann hätte in einem Pflegeberuf bestimmt eine blendende Figur gemacht. Fehlte nur noch die Frage: »Wie geht es uns denn heute?«
»Hmm?«
»Kaffee?«
Die Konversation zwischen Hutter und Lehmann beschränkte sich tatsächlich auf das Wichtigste. Sie vernahm ein undeutliches Grunzen, das sie als »Ja« interpretierte. Als sie mit dem Becher schlechten Automatenkaffees zurückkehrte, hackte Hutter mit dem Zeigefinger der rechten Hand sein Passwort in die Tastatur.
»Haben wir was?«, fragte er eher beiläufig.
»Sagte ich doch schon.«
»Ach so.«
Seine Eingabe hatte Erfolg, und endlich erschien die Arbeitsoberfläche.
»Haben sich Zeugen gemeldet?«
»Das auch. Aber ich habe was viel Interessanteres …« Lehmann wartete auf eine Reaktion ihres Chefs. Als diese ausblieb, schob sie freiwillig nach: »Es gibt Bilder der Tatnacht von der Überwachungskamera im Foyer des Museums.«
»Soso … Gut!«
Sie fuhren in einem Zivilauto vor. »Nur kein unnötiges Aufsehen«, hatte ihm Polizeikommandant Wiesendanger eingeschärft, im Wissen darum, dass Hutter in den vergangenen Jahren selten eine Anstrengung unternommen hatte, die über das Nötigste hinausging. »Winterbergs und Regierungsrat Streuli sind so.« Dabei ließ Wiesendanger seine Zunge herausquellen und verdrehte die Augen. Eine Geste, die Hutter als obszön empfand.
»Keine Sorge.« Hutter wollte auch bei seinem Chef kein ganzer Satz gelingen. »Eine Befragung. Wegen dem Bild. Das fehlt.« In Brocken würgte er die Informationen heraus.
»Sie wissen, was zu tun ist«, beendete Wiesendanger das Gespräch. Hutter war auf dem Beifahrersitz während der Fahrt nach Conradsberg kurz eingenickt. Lisa Lehmann, die das Auto steuerte, nahm dies als Kompliment für ihren umsichtigen Fahrstil. Genauso wie das »Soso«, mit dem Hutter ihre Entdeckung auf den Aufnahmen der Überwachungskamera kommentiert hatte: Ein Mann – das Gesicht war nicht zu erkennen, da er einen breitkrempigen Hut trug – betrat um 21.14 Uhr das Museum. Er wurde von Amélie Cohen am Eingang abgeholt, ging mit ihr in den ersten Stock und trat aus dem Bereich, der von der Kamera erfasst wurde. Um 21.22, nur acht Minuten später, verließ der Unbekannte das Gebäude wieder auf demselben Weg, freilich ohne Begleitung. Zeitlich passte das hervorragend mit dem vermuteten Todeszeitpunkt zusammen. Leider boten die weiteren Kameras, die vor dem Museum den Verkehr überwachten, keine neuen Informationen. An jenem Abend herrschte dicker Nebel. Für einen weiteren Zeugenaufruf war das Bildmaterial definitiv zu schlecht: Gesucht wird ein Mann, der Hut trägt – lächerlich!
»Sind wir denn wenigstens sicher, dass es ein Mann ist?«
»Er ist bestimmt über 1,80. Sein Gang und die ganze Postur. Vor allem die Aufnahmen, in denen er neben Amélie Cohen geht: ganz eindeutig ein Mann.«
»Immerhin minus 50 Prozent.«
Mit dieser Erkenntnis klingelten Hutter und Lehmann an der Pforte von Schloss Conradsberg. Sie wurden von Monika Reuter empfangen, der Haushälterin und guten Seele des Schlosses. »Ihr Besuch wurde angekündigt. Frau Winterberg erwartet Sie im Salon. Möchten Sie eine Tasse Tee?«
»Hmmpf?«
»Ja gerne!«
Ein Landei auf dem Schloss
Ich stand an dem Nachmittag in der Küche und schälte Zwiebeln. Sie müssen wissen, Winterbergs lieben Zwiebeln. Ist ja auch kein Problem, bei getrennten Schlafzimmern. Ich ahnte nicht, dass der heutige Besuch derart weitreichende Folgen haben würde. Der Herr Kommissar und seine Begleitung machten nämlich einen sehr anständigen Eindruck, so was erkenn’ ich auf den ersten Blick.
Sie werden mich nicht kennen: Ich bin Monika Reuter. Seit über 40 Jahren arbeite ich für die Familie. Als ich auf Schloss Conradsberg begann, war der Herr Winterberg frisch verheiratet mit der Gabriela, der ersten Frau Winterberg. Mei, war das eine gute Frau. So was von kultiviert! Hatte nie ein strenges Wort, auch nicht für uns Bedienstete. Und obwohl in jenen Jahren die beiden Kinder, die Stephanie und der Alexander, zur Welt kamen, hat sie immer mitgeholfen, zum Beispiel bei den großen Banketts, die der Herr Winterberg damals oft ausrichten ließ. Geschäftsfreunde aus der Brauerei- und Gastro-Welt. So viel Glanz in dieser Hütte. Ach, da werde ich ganz sentimental!
Für mich, das Landei aus Bayern, war die Anstellung auf Schloss Conradsberg die große Chance. Ich wuchs in ganz einfachen Verhältnissen auf, müssen Sie wissen. Auf dem Land, auf einem Bauernhof. Ein hartes Leben, das meine Eltern da führten. Sie waren zufrieden damit, aber ich sollte es einmal besser haben. Was sich halt Eltern jener Generation, die noch den Krieg erlebt haben, für ihre Kinder wünschten. »Mädchen, geh in die Schweiz, in einen vermögenden Haushalt, und lern dort den Sohn kennen und heirate den, dann hast du ausgesorgt.« Ganz so weit kam’s nicht. Natürlich hat mir der Winterberg junior damals schöne Augen gemacht. Aber erstens war er bereits verheiratet, und zweitens … egal.
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