Alarinjo war eine spezialisierte und professionelle Theaterform, die ihre Ursprünge im Voodoo-Kult Egungun hatte. Es war zudem eine satirische Maskerade, die sich stets unterschiedlichen sozialen und politischen Kontexten anpasste. Manchmal gerieten die Satiren zur scharfen Kritik gegen die feudalen Führer.
Da Theater im weitesten Sinn des Begriffes ein Kulturphänomen ist, das wiederum je nach den zeiträumlichen Bedingungen auf unterschiedlichen kulturellen Symbolen beruht, wird Aby Warburgs Pathosformel in diese Arbeit eingeführt. Unter diesem Gesichtspunkt werden Ähnlichkeiten zwischen Theaterformen aus verschiedenen Zeiten und Kulturkreisen veranschaulicht: „bei Pathosformeln, so Warburg, handelt es sich um kulturelle ‚Engramme‘ oder ‚Dynamogramme‘, die ‚mnemische Energie‘ speichern und unter veränderten historischen Umständen oder an weit entfernten Orten wieder zu entladen vermögen.“7
Zu Nitschs Orgien-Mysterien-Theater wurde und wird noch vieles publiziert – entweder als wissenschaftliche, als künstlerische oder als ausstellungs- bzw. kritikorientierte Analysearbeiten; im Rahmen dieses Forschungsstands wird die Aufmerksamkeit auf einige Forschungsarbeiten fokussiert: Es handelt sich nämlich um diejenigen wissenschaftlichen Arbeiten, die das Orgien-Mysterien-Theater mit dem kultisch-rituellen Theater in der griechischen Antike oder den Opferritualen im Dionysos-Kult, dem Wiener Aktionismus und dem Konzept des Gesamtkunstwerks analytisch in Verbindung bringen.
Die Monografie Hermann Nitsch – Das Gesamtkunstwerk des Orgien Mysterien Theaters 1 ist 2015 erschienen. Herausgeber Michael Karrer bezeichnet dieses 968-seitige Buch, das in enger Zusammenarbeit mit Hermann Nitsch entstanden ist, als ein Nachschlagewerk zu allen Bereichen des Orgien-Mysterien-Theaters als Gesamtkunstwerk. Dieses Buch thematisiert analytisch in klar gegliederten Kapiteln mit Textbeiträgen jeweils folgende Bereiche: Philosophie, Aktionen, Relikte, Malerei, Architektur, Musik, Inszenierungen, Frühwerk des Orgien-Mysterien-Theaters sowie das Schloss Prinzendorf. Außerdem behandelt das Buch in einem Exkurs Hermann Nitsch in Verbindung mit dem Wiener Aktionismus.
In ihrem Beitrag „Das Orgien-Mysterien-Theater von Hermann Nitsch“2 verschafft Eva Badura-Triska einen panoramaartigen Blick auf das Grundkonzept und den chronologischen Werdegang des Orgien-Mysterien-Theaters : sie dokumentiert bzw. veranschaulicht vor allem die Verbindung, die zwischen Nitschs Orgien-Mysterien-Theater als Kult des Seins und der ursprünglichen, kultischen, mythischen sowie therapeutischen Funktion der Kunst besteht, die nicht von der Lebenswelt abgehoben wurde.
Brigitte Marschall thematisiert in ihrem Beitrag „Das Orgien Mysterien Theater und die europäische Theatergeschichte“,3 wie dieses Theater in die Geschichte des europäischen Theaters eingeschrieben ist. Sie zeigt auf, wie das Orgien-Mysterien-Theater klare Rückgriffe auf die Tragödie der griechischen Antike, auf Richard Wagners Konzept des Gesamtkunstwerks, auf Friedrich Nietzsche und Antonin Artaud aufweist. Sie ist der Meinung, dass sich Nitschs Theaterkonzept in die Tradition der theatralen Ausdrucksformen einordnen lässt, die den Körper, das physische Handeln und den materiellen Prozess in den Mittelpunkt stellen und dem Theater ein auf das gesellschaftliche Kollektiv gerichtetes, meist utopisches Veränderungspotential zuschreiben.
In dem Beitrag „Baptism of Blood: Bodies Performing for the Law“4 untersucht Aspasia Stephanou die Performancekunst sowie die Blutrituale von Ron Athey und Hermann Nitsch. Dabei geht sie zunächst davon aus, dass beide Künstler aufgrund ihrer radikalen Kunstform als eine Herausforderung für die moderne Kunst und die Gesellschaft fungieren. Dann argumentiert sie, dass die Verwendung von Blut, das bei den beiden Künstlern im Zentrum steht, die Wirksamkeit besitzt, das patriarchalische System der sozialen Autoritäten anzugreifen und zu destabilisieren. Sie zeigt außerdem auf, dass derartige blutige Performancepraxen popularisiert werden, womit Blut Eingang in den Mainstream der Popkultur findet. In diesem Zusammenhang zeigt sie am Beispiel der Verwendung von Blut in einigen Auftritten der Popkünstlerin Lady Gaga auf, dass Blut seine symbolischen Bedeutungen eingebüßt hat und zu einem kommodifizierten Produkt geworden ist. Anhand ihres Vergleichs (Performancekünstler mit einer Popkünstlerin) veranschaulicht Stephano, wie Blut in unterschiedlicher Art und Weise benutzt wird, um die jeweiligen Projekte der genannten Künstler_innen zu ermöglichen: Während Atheys Performances das Blut als die Realitätsstelle des schmerzempfindenden Körpers unterstreichen und bei Nitsch Blut für das Zelebrieren von Eros und Thanatos steht, trennt Lady Gaga, indem sie künstliches Blut verwendet, das Blut vom Körper und seiner Bedeutung.5
Der von Aaron Levy herausgegebene Sammelband Blood Orgies: Hermann Nitsch in America 6 ist eine Zusammenstellung von Aufsätzen mit Bezug auf ein 2008 in Philadelphias „Slought Foundation“ durchgeführtes Projekt über Nitschs Orgien-Mysterien-Theater . Dieser Sammelband, der einen Beitrag zur kritischen englischsprachigen Literatur über Hermann Nitsch darstellt, geht vom gegenkulturellen Charakter von Nitschs Orgien-Mysterien-Theater , von seiner provokativen Verwendung von Blut, Fleisch und Innereien als künstlerischem Material sowie von seiner obsessiven Verwendung der Metaphorik der Kreuzigung Christi im Rahmen eines neopaganen Opferrituals aus. Er beschäftigt sich außerdem mit den emotionalen Reflexen der Rezipient_innen und mit deren kritischer Reaktion auf Nitschs Werk: Dieter Ronte untersucht z.B. die einschränkende „sekundäre“ Funktion von Fotografie im Verhältnis zu den auf multiple Sinneswahrnehmung abzielenden Performances, denen die unmittelbare Präsenz der Teilnehmer_innen zugrunde liegt, damit die erwartete Wirksamkeit erreicht wird. Ronte ist der Meinung, dass im Vergleich zu Nitschs Orgien-Mysterien-Theater , welches sich nicht auf Dokumentationen reduzieren lässt, die Fotografie Nitschs Kunst unverzüglich abbildet und sie zugleich entstellt. Adrian Daub verfolgt die klangliche Dimension des Orgien-Mysterien-Theaters . Er analysiert die Beziehung zwischen der Performance und den musikalischen, klanglichen und stimmlichen Elementen. Jean-Michel Rabaté befasst sich analytisch mit dem Orgien-Mysterien-Theater als Gesamtkunstwerk und zeigt auf, dass die Gemälde durch den Kontakt von Stoffen mit verschüttetem Blut und anderen Flüssigkeiten entstehen. Er schlussfolgert, dass gerade diese Blutmengen und Flüssigkeiten das wahrhaft Dionysische in Nitschs Kunstfertigkeit konstituieren. Michèle Richman verfolgt den ethnografischen Faden von Nitschs Kunstpraxis in Bezug auf die umfangreichen theoretischen Diskurse im 20. Jahrhundert über Festivals, Rituale und Mythen. Indem sie Nitschs Ikonografie und mit jener von Matthias Grünewalds „Isenheimer Altar“ aus dem 16. Jahrhundert vergleicht, erkennt Susan Jarosi in beiden Kunstwerken komplementäre psychische Ausdrücke geschichtlicher Traumata.
Im Gegensatz zu Nitschs Orgien-Mysterien-Theater liegt zurzeit der Entstehung dieser Arbeit noch nicht zahlreiche wissenschaftliche Forschungsarbeiten über Schlingensiefs Aktion 18, „tötet Politik!“ vor. Abgesehen von Dokumentations- und Materialquellen, die zudem künstlerisch oder ausstellungs- bzw. kritikorientiert sind und aus Aktionstagebuch, Presseberichten bzw. Pressereportagen, Fotografien, Interviews sowie Videoausschnitten bestehen, fehlt es an einer wissenschaftlich umfangreichen Analyse dieser Aktion. Jedoch gibt es eine Reihe von Forschungen und Publikationen, die Schlingensiefs künstlerisches Schaffen unter verschiedenen Vorzeichen untersuchen und in denen sich Abschnitte zu dieser Aktion finden. Im Folgenden kann ein Beispiel angeführt werden:
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