Für das Anliegen dieser Arbeit lassen sich das Orgien-Mysterien-Theater und die Aktion 18, „tötet Politik!“ nicht nur als Verschmelzung sowie Radikalisierung von Formen der Installations-, Happenings-, Aktions- und Performancekunst zuordnen. Beide Theateransätze eignen sich auch andere soziokulturelle und politische Dimensionen in ihrem Sosein für das Theater an. Darüber hinaus sind sie postdramatische Theaterentwürfe, „die, an die vorkoloniale Tradition oder im internationalen Maßstab gesehen an vorbürgerliche Kulturen anknüpfend, als […] Phänomene exemplarisch erscheinen für heutige internationale Tendenzen, bisherige Strukturen von Theater und verfestigte enge Grenzen von Kunst gegenüber anderen kulturellen [sowie politischen] Tätigkeiten aufzubrechen und fließender zu machen.“10 Dabei handelt es sich um die Kategorien der Entgrenzung und der Erfahrung im Prozess künstlerischen Schaffens und Rezipierens: In Theorien der Gegenwartskunst zur Einführung stellt Juliane Rebentisch Folgendes fest: „Während sich für die in den letzten fünfzig Jahren zu verzeichnenden Entwicklungen hin zu intermedialen und offenen Werken der Begriff der Entgrenzung durchgesetzt hat“, sei in der ästhetischen Theorie auch 1970, besonders in der deutschsprachigen philosophischen Ästhetik, parallel dazu ein weiterer Begriff wichtig geworden: die Erfahrung. Die Entgrenzung betrifft die neuartigen Kunstformen, die sich seit den 1960er-Jahren auf produktionsästhetische Gestaltungsformen beziehen. Der Begriff der Erfahrung fokussiere eher auf rezeptionsästhetische Wirkungsformen der Kunst. Die Produktions- und rezeptionsästhetischen Erfassungskategorien beziehen sich wie folgt aufeinander: Die Kategorie der Erfahrung ist als eine kunstpraktische Reaktion auf die Entgrenzungstendenzen in der Kunst zu verstehen. Dadurch wird ein besonderes Verhältnis zwischen dem rezipierenden Subjekt und dem zu rezipierenden Objekt erfahrungs- und wirkungsästhetisch hergestellt.11
Die vorliegende Untersuchung verfolgt einen theater- und kulturwissenschafltichen und transkulturellen sowie einen kunst- und kulturgeschichtlichen bzw. interdiszplinären Ansatz, der eine enge Wechselbeziehung zwischen wissenschaftlichem und künstlerischem Diskurs aufweist. Diese Arbeit baut hauptsächlich auf einem komparatistischen methodischen Verfahren auf und gliedert sich in drei Teile. Der erst Teil „Begriffsbestimmungen und theoretische Überlegungen“ geht auf zentrale Konzepte und Paradigmen sowie grundlegende theoretische Überlegungen der Untersuchung ein: Gegenkultur, postdramatisches Theater, cultural performance bzw. cultural celabration und Institutionskritik. Zum anderen werden der Untersuchungsgegenstand und den Forschungsstand zum Thema dargestellt. Der zweite Teil „Das Orgien-Mysterien-Theater und die Aktion 18, „tötet Politik!“ “ setzt sich mit der konkreten Analyse des angeführten Forschungsgegenstands auseinander. Als Ausgangs- und Orientierungspunkt zum allgemeinen Erfassen des künstlerischen Werdegangs von Nitsch und Schlingensief bilden ihre jeweiligen künstlerischen Biographien in diesem Arbeitsteil. Dann zeigt die Analyse, wie sich das Orgien-Mysterien-Theater und die Aktion 18, „tötet Politik!“ zum einen vom klassischen Theaterverständnis distanzieren und zum anderen mit performativen sowie rituellen Strategien Grenzüberschreitungen bzw. Transgressionen postdramatischer Gestaltungsformen bewerkstelligen. Dabei wird zusätzlich erörtert, welche expliziten und/oder impliziten Ähnlichkeiten und Wechselbeziehungen beide Theaterpraktiken mit mittelalterlichen oder afrikanischen vorkolonialen Theaterformen zeigen und wie dabei religiöse Handlungen transkulturelle bzw. synkretistische Merkmale aufweisen. In diesem Zusammenhang wird zudem veranschaulicht, wie Performativität und Ritualität je nach den zeiträumlichen, soziokulturellen und politischen Bedingungen unterschiedliche Bedeutungen und Funktionen haben. Hierbei wird in Betracht gezogen, wie mit der Akzentuierung performativ, rituell, gegenkulturell und institutionskritisch geprägter Strategien paradoxe Störkonstellationen im Rahmen dieser beiden Theateraktionen in den Vordergrund gerückt werden. Der dritte und letzte Teil widmet sich der Analyse des Theaters als Kunst bzw. Ästhetik kultureller Selbstreflexion und Selbstveränderung, der künstlerischen Behrührungspunkte in Nitschs und Schlingensiefs Inszenierungs- sowie Störstrategien, der Dynamik der Ordnungen im Spannungsfeld von Religion, Politik und Theater, des postdramatischen Theatersynkretismus sowie der Neuperspektivierung der Werkkategorie postdramatischer Ausprägung.
TEIL I: Begriffserklärungen und theoretische Überlegungen
1.1. Diskussion um theoretische Konzepte und Paradigmen
1.1.1. Postdramatisches Theater und Gegenkultur als Alternative
Gegenkultur ist ein wiederkehrender Untersuchungsgegenstand der Kulturwissenschaften. Der hier verwendete Begriff bezieht sich auf bestimmte postdramatische Theaterschauplätze, die sich durch eine durchlässige Grenze zwischen Kunst und Nichtkunst und somit durch ein Eindringen der äußeren Wirklichkeit in die Kunstsphäre und umgekehrt auszeichnen. Diese Verschiebung von der auschließlich textzentrierten Theaterform hin zur Entgrenzung sowie Verlagerung des theatralen Schauplatzes in den real gelebten Alltag soll in dieser Arbeit mit einer Revision des Konzepts Gegenkultur konkret diskutiert werden. Ausgehend von gesellschaftlicher und sozialer Interaktion definiert der amerikanische Soziologe J. Milton Yinger Gegenkultur als aktive Infragestellung geltender Normen und Werte eines bestehenden Mainstreams durch eine Minderheit derselben Gesellschaft in einer ausgelebten Form von Nonkonformität. Vorausgesetzt wird das Ziel, die dominante Gruppe bzw. ihre Regeln zu ersetzen.1 Für den amerikanischen Sozialkritiker Theodore Roszak ist Gegenkultur eine kulturelle Erscheinungsform, die von den entscheidenden Grundsätzen einer Gesellschaft so stark abweiche, dass sie von vielen nicht als Kultur, sondern als eine barbarische Strömung empfunden werde.2 Roszak zufolge entspringt Gegenkultur einer radikalen Unzufriedenheit und einem Erneuerungswillen jener Menschen, die mit den bestehenden Werten, Regeln und Lebensweisen der dominanten Kultur in Widerstreit stehen und nach alternativen Wegen suchen.3 Diese Arbeit knüpft an das Verständnis von Gegenkultur als Alternative an.
In einer spezifischen Ausprägungsform von Theater am Beispiel von Nitschs Orgien-Mysterien-Theater und Schlingensiefs Aktion 18, „tötet Politik!“ lässt sich eine Art von Gegenkultur beobachten, die eine andere Bedeutung als lediglich die Idee des Aufbegehrens gegen die Normen und Regeln des klassischen Theaterverständnisses vermittelt. Gegenkultur ist im postdramatischen Theaterverständnis mit experimentellen Zielen und mit einer Wandlung des theatralen Ausdrucksverhaltens verbunden. In diesem Sinne sind einige postdramatische Theaterformen gegenkulturell, nicht weil sie gegen die Textzentriertheit des dramatischen bzw. klassischen Theaters gerichtet sind oder es aufzulösen beabsichtigen, sondern weil sie eben ihre ästhetischen Ausdrucksmittel erweitern. Sie schaffen innovative theatrale Gestaltungsformen, die in den meisten Fällen keinen (fertigen) Theatertext zum Ausgangspunkt einer Aufführung haben. Sie sind gegenkulturell, weil sie in ihren experimentellen und innovativen Prozessen z.B. nicht mehr dem Selbstverständnis der modernen europäischen Kultur entsprechen, die „sich überwiegend in Texten artikuliert und repräsentiert“.4 Sie entsprechen dem performative turn : Sie fokussieren auf aktions- sowie interventionsorientierte Ausdrucksdimensionen von Handlungsereignissen bis hin zur Inszenierungskultur und der praktischen Herstellung von Erfahrungen im Alltagsleben.5 So geht die performative Wende seit den 1960er-Jahren nicht nur in den einzelnen Künsten mit einem Performativierungsschub, sondern auch mit der Herausbildung einer neuen Kunstgattung einher, die zu fließenden Grenzen zwischen den verschiedenen Künsten führt und Ereignisse statt Werke schafft.6 Diesbezüglich zielt gegenkulturell – wie später mit dem Begriff Institutionskritik veranschaulicht wird – in der hier vorgeschlagenen Verwendung nicht mehr primär auf den expliziten Widerstand gegen etwas ab, weil das textzentrierte Theater immerhin bestehen bleibt. So soll bei Gegenkultur über die a priori vorliegende gedankliche Verknüpfung mit Kontra, wider, Widerstand gegen hinaus auch Wert auf (je nach Kontext) die Idee oder das Potential von alternativ, innovativ, experimentell, tabubrechend, gesellschafts- und ideologiekritisch, institutionskritisch und/oder nebeneinander gelegt werden.
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