Ana ist auch die Knochenfrau, die Skelettfrau, die den Kern der Dinge enthüllt. Alles Fleisch ist von den Knochen abgelöst. Im Winter, wenn die Bäume ihr Laub verloren haben, wird ihr Skelett, die Form ihrer Äste und Zweige, sichtbar. Der Blick ist klar: Alles was Äußerlichkeit war, was vom Wesentlichen abgelenkt hat, ist fort.
Ana bringt uns den Segen unserer Vorfahren; wie ein Flüstern im Wind können wir ihre Stimmen, ihre Ratschläge hören, die uns die Kraft und den Mut und die Anleitung geben, um unsere Visionen zu verwirklichen.
Luft
Das Element der Spiritualität und der Vision
Luft symbolisiert unsere spirituelle Natur. Luft verbindet uns miteinander, wir alle atmen dieselbe Luft. Wir können uns mit der Mutter der Luft durch unsere Atmung und durch Klang verbinden. Alles, was existiert, beginnt als Idee – irgendwo im Energiefeld der Göttin. Gesang ist die magische Kraft der Göttin, durch Gesang wird die Idee manifestiert. Durch Klang und Gesang ist die Welt entstanden und durch sie bleibt sie am Leben. Diese Vorstellung ist nicht fremd, sondern war elementarer Teil der nordischen und germanischen Weltsicht. 20
Heilzeremonien sind immer von Gesang und Musik begleitet, denn Musik und Gesang sind schöpferisch, und in der Heilzeremonie wird gleichsam der Moment der Schöpfung wiederholt, und es ist die Schöpfungskraft des Gesangs, die wirkt. Tod und Schöpfung durch Gesang liegen somit beide bei der Mutter der Luft. Aus dem Tod entsteht das Leben. 21
Die Namen der Göttin zu tönen und zu singen ist eine kraftvolle Weise, sich mit der Göttin zu verbinden, laut gesprochene Gebete sind eine weitere. Weit verbreitet ist der Brauch, an heiligen Orten ein biologisch abbaubares Band, begleitet von einem Gebet, in einen Baum zu knoten. Der Wind trägt unsere Gebete zum Ohr der Göttin.
Mittwinterzeremonie mit den Kindern auf der Görresburg: Gebetsbänder anbringen .
Durch konzentriertes Atmen schaffen wir Raum, die Göttin wirklich hören zu können. Zähle einfach zwanzig Atemzüge und achte auf deine Atmung. Zwing dich nicht, achte einfach auf deine Atmung und spüre, wie du ruhig wirst. In diesem Zustand können wir die Göttin wahrnehmen.
Oft spricht die Göttin auch im Traum zu uns und im halbwachen Zustand beim Einschlafen oder Aufwachen.
Während der Wintermonate, wenn Eis, Kälte und die Todesgöttin das Land im Griff halten, ruhen wir in Perchtas träumendem Bauch. Hier empfangen wir unsere Vision, gestärkt und genährt durch Gesang und Klang. Zu Imbolc, wenn das Jahresrad sich weiterdreht, beginnt die Vision, Gestalt anzunehmen.
Perchta als Luftgöttin eröffnet unseren Zugang zur spirituellen Welt jeden Tag und im Tod ganz konkret. In manchen Regionen heißt das Wilde Heer der Perchta auch das Wütende Heer. Dies ist ein Missverständnis dessen, was eigentlich gemeint ist: Laut Vera Zingsem leitet sich wütendes Heer von watandes Heer ab, was übersetzt mit Geist, Spirit in Verbindung steht. Es ist kein gefährliches, tobendes Treiben, sondern das spirituelle Heer der Seelen, die von ihren Körpern gelöst unter Perchtas Leitung in die Anderswelt ziehen, zu Ana, zurück zur Quelle, der Großen Göttin. Zum Zug gehören Pferde und Hunde, und die Toten – Männer, Frauen und Kinder –, die Perchta in die Anderswelt führt, damit sie dort vor ihrer nächsten Inkarnation ruhen können.
In ihren Sagen wird auffällig häufig Perchtas große Nase betont. Diese deutet auf einen Vogelschnabel hin und weist auf einen weiteren Aspekt der Mutter der Luft hin: die Vogelfrau. Zum einen schenkt sie uns konkret die klare Sicht: Ihre Augen sind scharf wie die des Falken, der die Bewegung einer Maus aus großer Entfernung wahrnimmt. Wie die Skelettfrau hilft uns die Vogelfrau, das Wesen der Dinge wahrzunehmen: Mit ihren scharfen Krallen und ihrem scharfen Schnabel pickt und reißt sie das Fleisch von den Knochen und enthüllt die Essenz der Dinge. In ihrer Jahreszeit, dem Winter, schneidet ihre eisige Winterluft in unser Gesicht wie Rasierklingen und entfernt alles, was äußerer Schein ist, Masken und Verkleidung. Perchta hilft uns, die Dinge eben so klar zu sehen, wie durch ihre scharfen Vogelaugen.
Zum anderen zeigt sich hier die schamanische Kraft der Vögel: die Fähigkeit zwischen den Welten hin und her zu fliegen. Die Schamanin legt ein Vogelkostüm an und reist in Vogelgestalt in die andere Welt, um der Göttin, Ahnen oder Guides zu begegnen und Antworten mit zurückzubringen. Die klare Sicht der Vogelfrau bringt uns unsere spirituelle Vision. Ihre Gaben an uns sind Wahrheit – die tiefe Wahrheit im Inneren, das wahre Wesen der Dinge und der Menschen – und Klarheit, der klare, scharfe ehrliche Blick.
Anas Zeitlosigkeit ist im Steingrab im Wötz, Sachsen-Anhalt, fühlbar .
Die Steinfrau ist die Mutter der Luft in ihrem harten Winteraspekt, Ana in ihrer Unvermeidbarkeit. Sie erscheint uns hart und unnahbar, uralt und gleichzeitig jenseits von Alter. Seit Jahrtausenden stehen ihre Steinkreise und -reihen, aufgestellt von unseren Ahnen, und trotzen Kälte, Regen und Sturm. Hart und ungeschönt ist die Steinfrau, das Skelett des Alten Winterweibes, unzerstörbar und stark. Sie ist Zeugin allen Tuns der Menschen hier auf der Erde, durch die Jahrhunderte hinweg, größer als wir, gelassen und teilnahmslos. Sie war vor uns da, und sie wird noch lange nach uns da sein.
Die Steinfrau ist.
Die Mütternacht wird regional unterschiedlich gefeiert, entweder zur Wintersonnenwende oder in der ersten Rauhnacht vom 24. auf den 25. Dezember. Der Name geht zurück auf das angelsächsische Fest modraniht , von dem der Mönch Beda Venerabilis im 8. Jahrhundert berichtet. 22Zur Wintersonnenwende zeigt sich wieder, dass aus dem Tod das Leben geboren wird, denn aus dieser größten Dunkelheit gebiert die Göttin das Licht. In der alten Zeit wurde beim Sonnenuntergang vor der Mittwinternacht zeremoniell das Herdfeuer, das sonst ununterbrochen gehütet werden musste, gelöscht. Um Mitternacht oder beim ersten Licht des neuen Morgens wurde dann, wieder begleitet von Gesängen und Zeremonie, das neue Feuer entzündet.
In manchen modernen heidnischen Gruppen feiert man in dieser Nacht die Wiedergeburt des Sonnengottes. Das bekannteste Lichtkind ist in Deutschland wohl Jesus, dessen Geburt viele Christen kurz nach der Wintersonnenwende in der Mütternacht, der Heiligen Nacht am 24. Dezember feiern. Der Termin des Weihnachtsfestes wurde erst im vierten Jahrhundert fest auf den 25. Dezember gelegt. Die Symbolik passte einfach am besten in die Mittwinterzeit; außerdem konnte man auf die Weise gut die Heiligkeit der Mütter überlagern und dem Vergessen anheimgeben.
Zwischen den rekonstruierten Palisaden von Goseck, Sachsen-Anhalt, entlangzugehen, gibt uns ein Gefühl von Verbundenheit mit den Menschen vor 7000 Jahren und erfüllt uns mit derselben Demut und Dankbarkeit über die Wiedergeburt des Lichts wie sie .
Viele vorgeschichtliche Bodendenkmäler zeugen von der Verbundenheit unserer Ahnen mit der Göttin und ihrem großen Wissen und einem tiefen Verständnis von ihren heiligen Rhythmen. Im Burgenlandkreis in Sachsen-Anhalt wurde 2002 – 2004 eine große Kreis-Graben-Anlage ausgegraben und rekonstruiert, in der vor 7000 Jahren Zeremonien zur Wintersonnenwende gefeiert wurden. Zwei konzentrische Holzpalisaden weisen drei Unterbrechungen auf. Vom Mittelpunkt der Anlage aus zeigt eine genau nach Norden, während die beiden südlicheren Eingänge auf den Sonnenauf- und Sonnenuntergang zur Wintersonnenwende ausgerichtet sind. 23Vom Inneren dieses kreisrunden Tempels aus konnte das beeindruckende astronomische Ereignis zu dieser magischen Zeit beobachtet und gefeiert werden.
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