Im Bild der Hexe lässt sich noch viel von der Göttin als Greisin finden, und es ist unsere Aufgabe, das Lebensalter als alte Frau und Greisin heute wieder als machtvolles, kraftvolles Lebensalter für uns zu beanspruchen. In unserer Gesellschaft wird noch immer vermittelt, dass wir nette, folgsame Mädchen sein sollen; dass Frauen einem oberflächlichen Schönheits- und Jugendbild entsprechen müssen; und es herrscht eine regelrechte Angst davor, alt zu werden, als ob dieser Lebensabschnitt geradezu furchtbar sei. Außerdem sind unsere Familien auseinandergezerrt, und unsere Alten werden in Pflegeheime verfrachtet. Wir müssen die Greisin und die Hexe zurückfordern, ihre Weisheit wie auch ihre Irrationalität, müssen ihre Verschrobenheit würdigen. Sie kann uns lehren, unangepasst zu sein und frei zu bleiben, um als Frauen gesund und kräftig zu werden und zu bleiben und unsere Töchter zu starken gesunden Frauen zu erziehen. Dies geht nur, wenn die Alten sichtbar sind: in den Familien, in den Medien und überall.
Hier ist eine Frau, die sehr impulsiv geleitet wird
Dies ist die Greisinnenpracht von Old Silverhead
Sie durchschneidet die Rationalität mit ihrem Verstand, der wie schnelle Klingen ist
Das unlogische Denken der Greisin erhält sie glücklich und gesund
Die Vorsicht ist niedergerissen, es gibt nichts zu verlieren
Sie wird sich dazu entscheiden, dem Unvorhersehbaren nachzujagen
Dies ist die Greisinnenpracht von Old Silverhead.
(nach Carolyn Hillyer)
Es lebe die Greisin!
Rückkehr in den Schoß der Göttin
Matrona als Todesbotin hat per se nichts Erschreckendes, Bedrohliches. Wie die indische Kali ist sie eine Göttin, die beide Aspekte, Leben und Tod, Licht und Dunkel und alle Polaritäten verkörpert, und beide Seiten müssen gleichermaßen akzeptiert und geliebt werden. Anstatt Angst vor ihr zu haben und den Blick nur aufs Diesseits zu richten und jeden Gedanken an sie zu vermeiden, ist Matrona uns allen zugänglich, und wir können eine persönliche, intime Beziehung zu ihr pflegen.
In Matronas heiligen Schoß kehren wir nach dem Tod zurück. Dieser Gedanke war in vorchristlicher Zeit weit verbreitet, als die Grabarchitektur die regenerative Göttin abbildeten: ihr Bauch und Geburtskanal waren die Tore zur Wiedergeburt. Die halbkugelförmigen Grabhügel unserer Vorfahren stellen den schwangeren Bauch der Göttin dar, aus dem wir wieder geboren werden. In vielen neolithischen Grabhügeln hat man neben ihrem Bauch auch die Gebärmutter und den Geburtskanal errichtet:
Über die Jahrhunderte hinweg haben Regen und Wind den Erdhügel abgetragen, der diese Anlage der Sieben Steinhäuser in der Lüneburger Heide, Niedersachsen, ursprünglich bedeckte .
Die Verstorbenen wurden in Grabkammern tief in der dunklen Erde bestattet, zu denen man durch lange Gänge gelangt. Ein besonders beeindruckendes Beispiel für diese Art, wie die Menschen früher ihre Verbundenheit mit der Göttin durch sakrale Architektur sichtbar gemacht haben, ist der Grabhügel von Newgrange im Boynetal in County Meath in Irland (etwa 3500 v.d.Z.). Die hier Bestatteten wurden am Morgen der Wintersonnenwende wiedergeboren, wenn die Strahlen der aufgehenden Sonne durch ein eigens dafür über dem Eingang eingelassenes Fenster durch den Geburtskanal (Gang) kriechen und die Gebärmutter (Grabkammer) mit Licht füllen.
Noch älter sind die Bestattungsplätze in Lepenski Vir in Serbien (6500 – 5500 v.d.Z.). Der dreieckige Grundriss gibt den Schoß der Göttin, die Böden aus rotem Kalkstein ihr lebenspendendes Mondblut wieder. Während der Ausgrabungen wurden in diesen Gräbern mehrere Steine mit Vulvendarstellungen gefunden. 14
Matrona nimmt uns auf nach dem Tod, birgt uns sicher in ihrem Bauch, bis es Zeit für uns wird, wiedergeboren zu werden. Im Rheinland und in der Eifel haben Archäologen große Matrona geweihte Kultzentren und Tempelanlagen ausgegraben. Zum Teil wurden sie rekonstruiert, so dass Matrona an ihnen heute wieder verehrt wird. Die Görresburg bei Nettersheim ist eine solche Anlage, die auf einem Gipfel liegt, wo der Wind weht und man das umgebende Land überblickt. Dieser Tempel der Matrona hält eine Ruhe, Zeitlosigkeit und Größe, die für jeden spürbar ist. Ganz ähnlich ist der Matronentempel von Pesch, im Volksmund Heidentempel genannt, nur dass dieser Gipfel bewaldet ist und das Heiligtum versteckter liegt, wodurch sich die Energie subtil von der auf der Görresburg unterscheidet. Die Anlage von Pesch hat einen ganz besonderen Platz in meinem Herzen, denn dies war der erste Matronentempel, den ich besuchte, als ich 2002 ins Rheinland kam. 2013 haben mein Mann und ich dort geheiratet.
Offen ist das Land und weit ist der Himmel über der Görresburg .
GöttinnenverehrerInnen legen ihre Weihegaben in Matronas Schoß, vor den Weihesteinen oder oben auf dem Altar ab, oder sie knoten ihre Gaben in die Zweige .
Still und verwunschen ruht der Matronatempel in Pesch, Nordrhein-Westfalen, im Licht der untergehenden Wintersonne geborgen im Wald .
Diese zwei Kultplätze sind nur die berühmtesten vieler solcher Tempel und liegen dicht beieinander. Man kann gut beide am selben Tag besuchen und sich in die subtilen Unterschiede in der Energie beider Orte einfühlen. Beide Tempelanlagen sind friedliche, positive Orte, die täglich von zahlreichen Göttinpilgerinnen und -pilgern besucht werden. Äpfel, Blumen, Räucherstäbchen, Münzen, Kerzen und bunte Bänder sind die Gaben, die sie hinterlassen. Das Zentrum der Matronenverehrung lag aller Wahrscheinlichkeit nach in der Bonna, der keltischen Stadt, die die Vorgängersiedlung des heutigen Bonns ist. Bei Ausbesserungsarbeiten der Krypta fand man unter dem Bonner Münster nicht weniger als 50 Weihesteine an die Matronen, die dort vermauert worden waren. Dies ist eines von zahlreichen Beispielen für christliche Kirchen, die über älteren Plätzen der Göttinverehrung errichtet wurden.
Die Tore zwischen den Welten
Die Nacht von Samhain, die Nacht vom 31. Oktober auf den ersten November, ist eine Zeit außerhalb der Zeit: Bei Sonnenuntergang stirbt das alte Jahr, das neue Jahr wird erst zum Sonnenaufgang geboren. In der Dunkelheit der Nacht gedenken wir unserer Verstorbenen. Es heißt, dass sich in dieser Nacht die Schleier zwischen den Welten heben, die Tore sich öffnen und wir in die Anderswelt reisen können. Die Seelen unserer Vorfahrinnen und Vorfahren können uns besuchen. Wir stellen Kerzen in die Fenster, die unseren Verstorbenen den Weg weisen sollen, und decken beim Essen ein Gedeck mehr auf. Wir dekorieren Kürbislaternen mit dem Gesicht der Greisin und zünden Ahnenlichter an für diejenigen, die im vergangenen Jahr gestorben sind und sich nun auf die Reise in die Anderswelt machen.
Samhain ist eine gute Zeit, um das, was uns nicht länger dient, in den Schoß der Greisin, in den Kessel der Göttin zu geben, damit es gewandelt wird. Es ist eine gute Zeit, um Intentionen für das kommende Jahr zu säen, die den Winter über in der Dunkelheit ruhen und befruchtet werden, um im Frühjahr aufzulaufen, im Sommer zu reifen und im Herbst geerntet zu werden.
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