KILOMETER 101
Maxim Ossipow
KILOMETER 101
Skizzen und Geschichten
Deutsch von Birgit Veit
Lektorat: Regine Weisbrod
Umschlaggestaltung: Nikola Stevanović
Satz: Daniela Seiler
Hergestellt in der EU
Maxim Ossipow: Kilometer 101. Skizzen und Geschichten.
Deutsch von Birgit Veit
Die Übersetzung wurde vom Institut Perevoda gefördert.
Alle Rechte vorbehalten
© HOLLITZER Verlag, Wien 2021
www.hollitzer.at
ISBN 978-3-99012-888-6
INHALT
Sventa
Kilometer 101 – Skizzen aus dem Provinzleben
Auf heimatlichem Boden
Es könnte schlimmer sein
Unösterliche Freude
Die Kinder von Dzhankoj
Fantasie
Heimkino
Little Lord Fauntleroy
Die Zigeunerin
Figuren auf der Ebene
Luxemburg
Anmerkungen
SVENTA
Reiseskizze
Zum Andenken an meine Eltern
Wnukowo ist der kleinste, gemütlichste Flughafen von Moskau, und wenn du da landest, zumal am Samstag um elf Uhr abends, erwartest du kein Tohuwabohu. Eintragung in den Pass, Koffer, alles im Eiltempo:
„Woher?“
„Aus Vilnius.“
„Was bringen wir mit?“
Nichts Besonderes: Bücher, Käse. Die Normen der Einführung von Lebensmitteln werden von dir nicht überschritten: Geh durch. Aber gerade da, am Ausgang, erwartet dich eine Überraschung. Eine dichtgedrängte Menge Männer. So viele könnten zum Beispiel auf ein Flugzeug aus Tbilissi warten, aber nein, sie sehen nicht aus wie Grusinier. Es gibt auch keine Belästigungen: „Taxi, Taxi in die Stadt, preiswert“, es ist merkwürdig leise – trotz der Menge. Du drängst dich hindurch, aber sie wird nicht weniger dicht, die Leute weichen nicht aus, stören aber auch nicht absichtlich – sie stehen einfach da. Kräftige Männer mittleren Alters, bartlos, in dunklen Mänteln und Jacken, als würden sie dich gar nicht sehen. Sie reagieren nicht knurrig, machen keine Bemerkungen, wenn ihnen jemand mit den Rollen des Koffers über die Füße fährt. Es scheint, man könne sie kneifen oder stechen, sie rühren sich nicht. Eine unverständliche, dunkle Kraft aus einem Traum: Wer sind sie, wohin wollen sie – auf eine Pilgerreise oder einen Hadsch nach Mekka. Das klären wir gleich: Wo ist die Wache, die Polizei?
Wenn du dich zur Glastür durchdrängelst, entdeckst du, dass sie geschlossen ist – da auf der Straße ist ebenfalls eine Menge, aber eine andere, buntere, bestehend aus beiden Geschlechtern. Die Tür wird von einem Polizisten bewacht, er hat in der Hand ein Gefäß – wie spät du doch endlich begreifst: Das ist ein Altarlämpchen, es ist der Abend von Karsamstag, die Leute sind in Erwartung erstarrt, bald trifft das segensreiche Feuer ein.
„Spezialflug aus Tel Aviv. Wir warten auf den Flieger.“
„Rak ze chasér lánu“, das hat uns gerade noch gefehlt, das ist der einzige Satz, den du auf Ivrit beherrschst.
In einer oder zwei Stunden landet das Sonderflugzeug, die Obrigkeit verteilt das Feuer im Beisein des Fernsehens an die Männer, und sie bringen die Altarlämpchen nach Moskau, in das Gebiet um Moskau und die Nachbargebiete. Dann erst lässt man auch alle anderen ins Innere des Flughafens. Eine Reportage fällt hier nicht schwer: Die Menschen fahren von überall nach Wnukowo – „Wir kommen schon das sechste Jahr her“, „Wir glauben an das Volk, an unser Land“.
Nur die Ruhe, nur die Ruhe, keine Panik. Der Polizist deutet an: „Die dritte Tür dient als Ausgang.“
Den Koffer hinter dir herziehend, musst du dich wieder durchdrängeln. So endet die Reise nach Litauen.
„Was für Emotionen ruft dieser Ort bei Ihnen hervor?“, fragte eine Korrespondentin der Zeitung von Zarasai auf Englisch. Sie war die Einzige, die dich und Tomas, den Übersetzer und Verleger, empfing, und sie verstand kein Russisch.
„Für mich ist Zarasai gar kein Ort, sondern eine Zeit. Mit einem Wort: Paradise lost.“
Das Mädchen hatte einen Verdacht: „Sehnt sich der Genosse nach der UdSSR?“
„Nein überhaupt nicht! Nur nach den Zeiten, da meine Eltern noch lebten.“
„Sind Sie zum ersten Mal im freien Litauen?“
„Im freien, ja, zum ersten Mal. Es ist gut, wenn man sich nicht als Besatzer fühlt.“ Du bist durch Vilnius gelaufen, alles hat dir gefallen, aber es hat dich hierhergezogen. Du schaust dich um: eine neue Bibliothek am See (die ganze Stadt liegt am Ufer), ein Café mit Säulen, das aus den frühen Siebzigerjahren stammt und nicht in Betrieb ist (da gab es Tagesgerichte), eine katholische Kirche. Das Denkmal für das bewaffnete Mädchen namens Melnikaitė ist spurlos verschwunden. Und, wie üblich in solchen Städtchen, ist die Natur anziehender als das, was die Menschen gebaut haben.
„Warum sind Sie nicht schon früher gekommen?“
Die Antwort war ein Achselzucken. Mein Vater hatte von da vor fast vierzig Jahren geschrieben: Hier ist es ruhig, und es gibt keine Konflikte. Sowohl im Haus wie in der Stadt, wo jetzt wenig Leute sind und man mich wahrscheinlich deshalb sogar auf der Post höflich behandelt. Und manchmal fühlst du dich nicht wie ein schäbiger Moskauer mit belastetem Gewissen, sondern siehst die Welt anders: Du empfindest ihre Unerbittlichkeit.
Und hier deine eigene Tagebuchnotiz von vor fünfzehn Jahren: Möchte nach Zarasai, wo ich so viel Zeit verbracht habe: jeden Sommer, so viele Jahre hintereinander. Fahre hierhin und dorthin, wohin man fahren muss, wohin man sich schämt, nicht zu fahren, nur nicht nach Zarasai. Das heißt nicht sein eigenes Leben leben.
Hier war es windig, sauber: Sandböden, und auch die hiesigen Einwohner sind bestrebt, die Sauberkeit aufrechtzuerhalten. Öde.
„Geräumig“, sagte die Korrespondentin lächelnd.
„Ja.“ Sie verabschiedeten sich. „Kommen Sie im Sommer mit Freunden.“
Keine schlechte Idee. Aber von denen, mit denen du nach Zarasai gefahren warst, war der eine in San Francisco, der andere in Amsterdam, einem anderen musste die Freundschaft aufgekündigt werden, und einige, Eltern und Schwester eingeschlossen, waren tot.
Und du fährst zu der Halbinsel, die zwei Kilometer entfernt ist, auf der Südseite des Sees, an den Weg erinnerst du dich, du brauchst weder Navigator noch Begleiter.
„Hier stand das Haus …“ – zweistöckig, aus Stein. Keine Spur ist von ihm geblieben, man hat es abgerissen. Nach dem Tod der Eigentümer (von dem du erfahren hast) teilten die Kinder das Erbe und verkauften das Haus, aber den Käufern gefiel es nicht. Sie zerstörten es mit allen Anbauten und machten es dem Erdboden gleich. Sie wollten etwas Eigenes bauen, aber offenbar ging ihnen das Geld aus. So erzählen die Nachbarn, sie erinnern sich sogar ein bisschen an eure Familie.
Merkwürdig, das Haus war solide gebaut. Mit einem Riesenbalkon, auf den der Mittagstisch hinausgetragen wurde. „Der, mit dem wir uns treffen“, sagte Mutter tonlos, „euer Gast und Nachbar, der Sergej Rachmaninow ähnelt und ebenfalls aus Moskau stammt, hat mir beim Teetrinken erklärt, dass er Parteisekretär seines Instituts ist.“ Mutter war schweigsam, besonders im Vergleich zu Vater, konnte aber auch hinter vorgehaltener Hand etwas Peinliches anmerken. Sie war hier nur im Juli und August, während Vater zu jeder Zeit hier war. Im Sommer wohnte er oben, im Winter: hier ungefähr, wo du jetzt stehst. „Gerade flattert auf ein Vogel / Durchs leere damalige Fenster.“
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