„Routinefall“, ergänzte Thaler.
„Guter Plan.“
„Äh, Rauscher, offiziell ermittelst du ja nicht mit uns, aber Markowsky hat da so ne Andeutung gemacht …“, bemerkte Krause.
„Welche?“
„Dass du im Dezernat Augen und Ohren offenhalten könntest. Als Botschafter bist du ja jeden Tag in der Höhle des Löwen.“ Thaler grinste.
„Ich ruf ihn an.“
„Mach das!“
„Haltet ihr mich auf dem Laufenden?“
„Ehrensache!“, sagte Thaler und kam damit einem bissigen Kommentar von Krause zuvor, der sich aber doch nicht ganz zurückhalten konnte.
„Ich weiß zwar nicht, was da im Hintergrund läuft, aber ich mache mir so meine Gedanken.“
„Kann nicht schaden“, beendete Rauscher das Gespräch, drehte sich um und war in der nächsten Sekunde aus dem Haus verschwunden.
Spät am Abend, Rauscher war längst wieder zu Hause eingetroffen und hatte Jana über den Mord informiert, verzog er sich in sein Büro, griff zum Handy und wählte Markowskys Privatnummer.
„Herr Rauscher, was kann ich für Sie tun?“, meldete sich der Chef nach ein paar Sekunden. Seiner Stimme war anzumerken, dass er zwiegespalten war. Ein Anruf um diese Uhrzeit, und auch noch von seinem einstmals besten Mann, der mittlerweile bei vielen im Präsidium in Ungnade gefallen war.
„Ich nehme an, Sie haben es schon gehört“, begann Rauscher.
„In der Tat. Tragisch.“
„Mehr haben Sie dazu nicht zu sagen?“
„Was wollen Sie hören, Rauscher? Dass wir genau das hätten verhindern müssen? Klar! Ja! Sicher! Aber nun ist es passiert. Unsere Operation hat offensichtlich zu spät begonnen.“
„Und wie soll es jetzt weitergehen?“
„Die Kollegen ermitteln. Und Sie bleiben auf Ihrem Posten. Was haben Sie denn rausgefunden in Ihrer ersten Woche?“
„In meiner …? Nichts!“
„Was soll das heißen? Wofür habe ich Sie denn im Dezernat undercover eingesetzt?“
„Adlhof hatte tausend Termine, Kollmann, sein Stellvertreter, war nie greifbar, Frau Bodenstock hat mir immer nur zwischen Tür und Angel zugehört. Es ist alles noch so frisch. Keiner kennt sich aus. Ehrlich gesagt, es war …“
„Nicht jammern, Rauscher, handeln!“
„Wie meinen Sie das?“
„Sie bleiben vor Ort.“
„Ich soll aus dem Dezernat …?“
„Warum nicht? Genau deshalb habe ich Sie vor Ort platziert. Sie können sich dort umhören, ohne dass es auffällt. Mehr so hinten herum … Sie wissen, was ich sagen will?“
„Seit Wochen gibt es Drohungen gegen das Dezernat. Bis hin zu offenen Morddrohungen! Und wir konnten nicht verhindern, dass jemand getötet worden ist. Das ist doch ein riesiges Schlamassel!“
„Mitnichten! Es wäre erst ein Debakel, wenn herauskäme, dass Sie dort undercover … Und genau deshalb darf es niemals, ich betone: NIEMALS jemand erfahren! Haben Sie das verstanden?“
„Wie könnte ich nicht? Aber soll ich nicht wenigstens Thaler und Krause einweihen?“
„Auf keinen Fall. Je weniger darüber Bescheid wissen, desto besser.“
Rauscher wollte die Gunst der Stunde nutzen. Er hatte Markowsky nicht sehr oft an der Strippe. „Was ist eigentlich mit meinem Sabbatical?“
„Sind Sie noch bei Trost? Mich in dieser Situation so etwas zu fragen! Ergebnisse, Rauscher, ich brauche erst Ergebnisse! Dann können wir über alles reden.“ Markowsky setzte kurz ab. „Ich vertraue Ihrem Instinkt, Rauscher. Und wenn wir den Mörder haben, unterhalten wir uns über Ihre Hirngespinste.“ Rauscher wollte noch etwas fragen, kam aber nicht dazu, denn der Chef schloss das Telefonat mit einer Art Appell: „Geben Sie Ihr Bestes! Sie schaffen das! Schönen Abend noch.“
Markowsky! Irgendwie war der Chef so etwas wie sein Yin und Yang. Er mochte ihn, er hasste ihn. Markowsky hatte Rauscher in seinen jungen Jahren bei der Frankfurter Mordkommission protegiert und aufgebaut, als den Hoffnungsträger der gesamten Frankfurter Kripo bezeichnet. Rauscher war damals überall angesehen gewesen, die Kollegen hatten Achtung und Respekt vor ihm gehabt. Die Lösung einiger spektakulärer Fälle ging tatsächlich auf sein Konto. Das wurde ihm hoch angerechnet. Gleichzeitig führte dies aber auch zu Überheblichkeit, sogar Übermut. Immer häufiger hatte er Alleingänge gewagt, die sein Leben – und das Leben anderer – gefährdet hatten. Zudem waren seine Ausraster legendär. Hin und wieder war er zu forsch vorgeprescht und hatte sich nicht im Griff gehabt. Trotzdem war alles gut gegangen, bis zu jenem Tag, an dem sein Leben eine entscheidende Wendung genommen hatte und seine Karriereaussichten einen herben Dämpfer erlitten hatten.
Es war während des Fluglärm-Falles geschehen. Rauscher hatte seine damalige Braut Elke vor dem Altar stehen lassen und war aus der Kirche geeilt, um eine potenzielle Selbstmörderin zu retten.
Das hatte gleich mehrere Hebel in Bewegung gesetzt und sowohl Elke als auch seine eigene Familie gegen ihn aufgebracht. Und nicht nur das: Seitdem war Rauscher Markowsky ein Dorn im Auge. Ausgerechnet Elkes Vater, der ehemalige Polizeipräsident von Hamburg, war ein Gönner und Vertrauter seines Chefs. Seitdem stand Rauscher unter besonderer Beobachtung und durfte sich nichts mehr leisten. Hinzu kamen die quälenden Momente, nachdem Elke mitsamt seinem Sohn Mäxchen nach Hamburg zurückgegangen war.
Wie konntest du mir das antun?, hatte Elke ihm vorgeworfen. Der Streit, die langen Monate, in denen er Mäxchen nicht einmal zu Gesicht bekommen hatte. Das zehrte. Mäxchen fehlte ihm so sehr. Und keine Hoffnung auf Besserung.
Wie konntest du mir das antun?
All das hatte sein Nervenkostüm strapaziert. Er war angeknackst. Wurde immer impulsiver. Einige Unbeherrschtheiten hatte Markowsky noch billigen können, aber als es nicht besser, sogar noch schlimmer geworden war, konnte das niemand mehr verschmerzen. Auch nicht Rauschers engste Mitarbeiter Krause und Thaler, die sich mehr und mehr von ihm distanzierten. Es folgte die Suspendierung nach einem schlimmen Aussetzer, als er Kollege Krause tätlich angegangen war, zugegebenermaßen in einer psychischen Ausnahmesituation. Dies konnte und wollte Markowsky nicht länger dulden.
In Rauschers Kopfkino lief alles noch einmal ab. Elke. Mäxchen. Seine Eltern. Markowsky. Immer wieder Markowsky. Die Suspendierung war absehbar gewesen. Und folgerichtig. Alles war aus dem Ruder gelaufen, aber zwischendurch hatte er Jana kennengelernt und nun saß er mit ihr im selben Boot. Er würde darauf achten, dass es nicht die Titanic werden würde. Im Gegenteil. Jana war Rauschers Glück. Seit dem Abgerippt-Fall, und ganz besonders in der letzten Phase, stand sie eisern zu ihm. Als Einzige hatte sie vorbehaltlos zu ihm gehalten, ohne Wenn und Aber. In etlichen Situationen hatte sie ihm nicht nur den Rücken freigehalten, sondern auch entscheidend dazu beigetragen, dass er die Fälle – trotz aller auftretenden Schwierigkeiten – schließlich lösen konnte. Das würde er ihr nie vergessen.
Natürlich vermisste er Mäxchen sehr, aber Jana gab ihm Trost und Halt. War Geliebte und Freundin. Mit ihr konnte er sich austauschen wie mit niemandem sonst auf der Welt.
Jahrelang hatte Rauscher geglaubt, dass er es vereinbaren könnte, Fälle zu lösen, pflichtbewusst zu sein und dabei trotzdem seinen eigenen Weg zu gehen und auch noch sein Privatleben auf die Reihe zu kriegen. Heute wusste er, dass es nicht unter einen Hut zu bringen war. Seine Maxime: ‚Sei ein guter Polizist und das Leben wird dir den Platz zuweisen, der für dich vorgesehen ist’, war ihm abhandengekommen. Zerbröselt vor seinen Augen. Das Leben hatte einen unvorhersehbaren Schlenker genommen. Er hatte zwischenzeitlich seinen Job verloren, aber dadurch Jana gewonnen. Er hatte geerbt, denn seine Tante Adelheid war gestorben. Und seine Familie stammte von der Frau Rauscher aus der Klappergasse ab, wie ein Ahnenforscher zweifelsfrei recherchiert hatte. Das alles musste er erst einmal verdauen.
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