Rauscher schluckte.
„Andreas Rauscher ist prädestiniert für dieses Amt wie kein Zweiter“, fuhr Adlhof fort, „und wird ihm die nötige Ehre erweisen. Er wird sich für unser beliebtes Stöffche mit ganzer Kraft einsetzen und es würdig in aller Welt vertreten. Und nun bitte ich den Würdenträger nach vorne, damit ich ihm die Ernennungsurkunde überreichen kann. Kommen Sie, Herr Rauscher!“
Es dauerte eine ganze Weile, bis Andreas Rauscher endgültig realisiert hatte, dass er gemeint war. Er reagierte erst, als Jana ihm in die Bauchfalte zwickte. „Ich glaube, du musst mal da vor.“
„Äh … ich?“ Er wandte ihr den Kopf zu und schaute sie mit starren Augen an. „Aber wieso …?“
„Frag lieber nicht, das werden wir jetzt sowieso nicht ergründen können. Vielleicht steckt Markowsky dahinter.“ Da sich Rauscher noch immer nicht gerührt hatte, rief sie: „Los jetzt!“ und gab ihm einen kleinen Schubs.
Wie in Zeitlupe erhob sich der Kommissar und blickte sich schüchtern im Saal um; aber auch jetzt erkannte er niemanden. Doch was er sah, gab ihm Kraft. Die Gäste fingen begeistert an zu klatschen und halfen ihm so, in Gang zu kommen. Seine Schritte aus der Reihe und nach vorne waren leichtgängig, er schwebte geradezu im aufbrausenden Applaus.
Adlhof drückte ihm die Hand und überreichte ihm die Ernennungsurkunde.
„Ich freue mich sehr, den ersten Frankfurter Apfelwein-Botschafter an meiner Seite begrüßen zu dürfen: Andreas Rauscher. Wir sind alle sehr gespannt, was Sie dazu zu sagen haben.“
Adlhof warf einen hoffnungsfrohen Blick auf Rauscher. Mit einer Geste seiner rechten Hand bat er ihn, ans Mikrofon zu treten. Der Beifall im Saal verebbte.
Rauscher drehte langsam den Kopf in Richtung Publikum, machte einen Schritt zum Pult und legte die Urkunde auf der schrägen Fläche ab. Er sah die vielen Köpfe, die ihn neugierig und erwartungsvoll beäugten. Sein Gesicht war bleich wie das einer Wachsfigur.
„Ja, also …“ Er setzte ab, bevor er zögerlich fortfuhr: „Ehrlich gesagt, weiß ich gar nicht, was ich sagen soll … Ich schätze, das ist eine große Ehre für mich.“ Wieder brandete Beifall auf, der nur langsam verklang. „Ob ich für diesen Job allerdings auch geeignet bin, muss sich erst noch erweisen. Ich werde aber mein Bestes geben, um unser geliebtes Stöffche …“ Beinahe hätte er ‚zu trinken‘ gesagt, aber er schluckte die Worte gerade noch einmal hinunter. „Also, um unserem Stöffche den nötigen Rang zu verleihen, den es verdient.“
Adlhof stand neben ihm, grinste über beide Ohren und fing spontan an zu klatschen. Das Publikum schloss sich vorbehaltlos an.
Jana klatschte am lautesten.
Unmittelbar nach Beendigung der Ehrung stürmte sie nach vorne, fiel Rauscher um den Hals und gab ihm einen dicken Kuss auf den Mund.
„Das ist ja ein Ding!“, rief sie und ihre Stimme klang, als sei sie völlig baff.
„Ich glaube, ich träume.“ Rauscher wirkte nüchterner, fast schon skeptisch.
Durch den Wald von Hainbuchen, Eschen und Ahorn führte ein schmaler Weg bis zu einer Waldlichtung. Am Rande, neben einem Jägerhochsitz, der seine besten Tage bereits hinter sich hatte, standen auf einem abgesägten Baumstumpf fünf leere Flaschen: vier Apfelwein- und eine Bierflasche. Die sternenklare Nacht hatte Frost gebracht. Die ersten Sonnenstrahlen erwärmten zwar die Luft, aber es war immer noch lausekalt in Frankfurt. Das über den Winter grau gewordene Gras trug Tau.
Zehn Meter entfernt, unter einem herabhängenden Ast, hob sich ein Arm, dessen Hand eine Pistole hielt. Es war eine Ruger MK II Halbautomatik mit Schalldämpfer.
Ein Schuss krachte. Eine Apfelweinflasche zerbarst in tausend Glasteilchen, die in alle Himmelsrichtungen flogen und sich anschließend auf dem Waldboden verteilten.
Die Hand zielte erneut. Wieder krachte ein Schuss und eine weitere Apfelweinflasche zerplatzte.
Das Schauspiel wiederholte sich noch zweimal und raubte auch den beiden verbliebenen Apfelweinflaschen ihr Dasein.
Übrig blieb die Bierflasche. Sie stand nun allein auf dem Baumstumpf und glänzte in der Sonne. Der Arm senkte sich. Die Pistolenmündung zielte Richtung Boden.
Mit den Fingern der rechten Hand streichelte ihr Besitzer die Ruger. „Dich werde ich noch gut gebrauchen können.“
Als Andreas Rauscher zu seiner zweiten Dienstwoche im neuen Apfelwein-Dezernat erschien, erwartete ihn schon eine Dame, die nervös in der Empfangshalle hin- und herlief. Sie war schlank und trug einen konservativen Hosenanzug.
Rauscher blieb stehen.
„Wo bleiben Sie denn?“, raunte ihn die Dame an und schaute demonstrativ auf ihre Uhr. „Die PK fängt genau in dieser Sekunde an. Bitte beeilen Sie sich! Mit Journalisten ist nicht zu spaßen. Wir müssen nach außen einen professionellen und seriösen Eindruck vermitteln, sonst …“
„Ihnen auch einen wunderschönen guten Tag, Frau Bodenstock“, fiel ihr Rauscher harsch ins Wort.
Frau Bodenstock war die persönliche Assistentin des Dezernenten, Herrn Adlhof, und so spielte sie sich manchmal auch auf.
Sie seufzte, blieb stehen und blickte ihn scharf an. „Für solche Spielchen habe ich keine Zeit. Ich konnte die Presse bis heute vertrösten, aber jetzt müssen Sie ran. Folgen Sie mir!“
Der Hosenanzug stand ihr, dachte Rauscher, als er hinter ihr herging. Er konnte kaum seine Augen von ihrem wackelnden Hintern nehmen. Nicht weil er ihn so entzückend fand, sondern weil er sich ihm aufdrängte.
Während der ersten Woche im neuen Amt hatte Rauscher nicht gewusst, was er tun sollte. Er hatte Dezernatsmitarbeiter kennengelernt und sich vorgestellt. Er hatte Hände geschüttelt und sich Namen gemerkt. Er hatte versucht, sich Gesichter einzuprägen, was ihm schwergefallen war. Doch das war‘s dann auch schon gewesen. Darüber hinaus hatte er keine Aufgaben zu erledigen gehabt. Niemand hatte Zeit für ihn, niemand teilte ihm etwas zu, niemand beachtete ihn. Noch lag eine gewisse Lethargie über dem neuen Gebäude. Die vielen Gänge waren fast alle verwaist. Bis auf Frau Bodenstock, die für gewöhnlich etwas hektisch wirkte, mussten sich alle anderen erst mit ihrer neuen Rolle und ihrem neuen Posten anfreunden. So auch Rauscher. Ihm kam der Verdacht, dass er sich selbst darum kümmern musste, was er zu tun und zu lassen hatte. Er musste auch nicht permanent vor Ort sein. Also besuchte er das Dezernat nur an jenen Tagen, an denen tatsächlich etwas anlag, denn ihn hatte schon nach den ersten beiden Tagen der Ebbelwoi-Blues erfasst. Er sah keinen rechten Sinn in seiner neuen Tätigkeit.
Jedes Mal, wenn er dieses cleane Gebäude betrat, wuchs in ihm das dringende Verlangen nach einem Schoppen. Der Schmelz des Stöffches lag ihm schon auf der Zunge. Ein, zwei Gläser hätten seine Stimmung sicherlich gehoben. Aber er hatte sich zurückgehalten. Wollte nicht sofort auffallen. Gelegen kam ihm, dass am Nachmittag des dritten Tages eine Einladung ins Haus geschneit war. Die Buchscheer lud ihn zu einer Ebbelwoiverkostung ein. Als er die Karte las, musste er lächeln. Auf die gleiche Idee war Jana gekommen und hatte ihm die Verkostung zu Weihnachten geschenkt. Trotzdem freute er sich. So konnte er schnell und auf offiziellem Wege die Vorzüge des neuen Amtes kennenlernen. Allerdings wusste er nicht, ob er sich in solchen Situationen erst Adlhofs Genehmigung einholen musste oder ob er so etwas selbst entscheiden konnte. Er wollte das vorher klären und nahm sich vor, Adlhof heute noch zu konsultieren. Frau Bodenstock zu fragen, schloss er für sich persönlich aus.
Zwar hatten ihn schon in den ersten Tagen einige Journalisten für ein Interview angefragt, Rauscher hatte jedoch um Bedenkzeit gebeten. Er hatte Sorge, dass die Geschichte, seine Familie stamme von der Frau Rauscher ab, sich zu stark in die Öffentlichkeit drängen würde und womöglich eine Art Hype auslösen könnte. Er hatte sich erst einmal eine Art Pressestrategie gebastelt, bis er sich bereit fühlte. Für heute 16 Uhr war eine Pressekonferenz angesetzt.
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