»Ha!« Fallender lachte erneut. » Ihre Beobachtungen!« Er sagte das, als würden ihre Beobachtungen nun wirklich keine Rolle spielen. »Für welche Universität oder Forschungseinrichtung arbeiten Sie noch gleich?«
»Gar keine.«
Alle im Raum starrten sie an. Zumindest kam es Lena so vor. Sie beschlich sofort ein ungutes Gefühl. Eigentlich war es ihr egal, dass sie gerade ihr eigenes Forschungsprojekt betrieb und selbstständig war. Für die Familie und Jean war es zumindest das Beste. Jetzt wäre es ihr anders lieber gewesen.
»Hatten Sie nicht dieses Angebot vom Max-Planck-Institut, nachdem Sie Ihren Lehrauftrag an der Universität in Berlin gekündigt hatten?«, fragte Ewald nach.
»Ja«, sagte Lena. »Aber das habe ich abgelehnt. Denn dafür hätten wir nach Bayern ziehen müssen.«
Sie musste schlucken. Sie wurde von zwei Naturschutzverbänden bei ihrer Wolfsforschung finanziell unterstützt, die ihre Arbeit sehr schätzten. Doch wenn sie auf Menschen wie Fallender traf, dann merkte sie, dass das Einzige, was auf dieser Welt zählte, die Schulterklappen waren, die man trug. Arbeitete man für eine prominente Universität, war jeder Schwachsinn angesehene Forschung. Arbeitete man für sich selbst, wurde man sofort als Hobbybiologe abgestempelt.
Sie atmete tief durch. »Die bisherige Annahme einer strikten Hackordnung in Wolfsrudeln beruhte auf der Beobachtung von gefangenen Wölfen. In der Freiheit hingegen …«
»Und so weiter und so fort«, unterbrach sie Fallender.
»Herr Ewald!« Lena war kurz davor, doch noch zu explodieren. Sie sah ihn Hilfe suchend an. Er wusste doch, dass sie eine hervorragende Biologin war. Warum sonst hatte er um ihre Hilfe gebeten?
»Vielleicht erklären Sie einfach noch mal weiter Ihren Ansatz«, bat Ewald Fallender, anstatt sie zu unterstützen.
»Sehr gern.« Fallender warf Lena einen vernichtenden Blick zu. »Denn ganz ehrlich, unabhängig davon, was diese Biologin für ›Beobachtungen‹«, die Gänsefüßchen waren mehr als deutlich herauszuhören, »gemacht hat – letztlich sind mir Wölfe schnuppe. Sie bieten eine schöne Metapher, wenn ich in meinen Seminaren etwas erklären möchte. Das, was ich jedoch ganz sicher weiß – und was für Ihren Fall entscheidend bleibt: Beim Menschen gibt es das Omega-Tier. Ich treffe sie täglich in meinen Seminaren, ausgegrenzte Individuen, auf deren Kosten sich lustig gemacht wird, Männer, bei denen die Frauen vom Tisch aufstehen, wenn sie sich dazusetzen, Frauen, über deren fette Hintern noch während ihres Vortrags hinter vorgehaltener Hand gelästert wird und die sofort unterbrochen werden, wenn sie auch mal etwas sagen wollen …«
Lena schloss die Augen, während sie weiter zuhörte. Ja, man konnte es sich einfach machen. Man konnte alles über einen Kamm scheren, Äpfel mit Birnen vergleichen und mit einfachen Interpretationen versuchen, die Welt zu erklären. Da riss man sich als Forscher ein Bein aus, stellte Thesen auf, um sie jahrelang in akribischer Arbeit zu falsifizieren, bis sie standfest untermauert waren. Doch wozu? Damit am Ende Scharlatane wie Fallender mit ihren einfachen Lösungen die Entscheidungsträger berieten? Wie wütend sie das machte.
Wieder spürte sie, wie es in ihr brodelte, wie sie am liebsten aufgesprungen wäre, um Fallender schreiend eines Besseren zu belehren. Doch sie schaffte es erneut, sich im Griff zu halten. Sie atmete tief in den Bauch und hielt ihre Augen geschlossen, damit Fallenders arroganter Blick sie nicht zusätzlich provozieren konnte. Gleichzeitig suchte sie krampfhaft nach einer Idee, wie sie ihm seine Unverschämtheiten heimzahlen konnte.
»Frau Bondroit!« Es war die Stimme von Ewald.
Sie ließ ihre Augen noch einen Moment geschlossen, spürte jedoch, dass sich etwas im Raum verändert hatte. Als sie die Augen öffnete, sah sie, dass Ewald aufgestanden war und sich vor ihr aufgebaut hatte.
»Jetzt spielen Sie mal nicht die beleidigte Leberwurst. Verstehen Sie denn mein Problem nicht. Wir haben nur noch elf Tage bis zum Anschlag. Und drei Tage später wird gewählt. Können Sie sich vorstellen, was dieser Anschlag neben den direkten Schäden für politische Auswirkungen haben könnte? Sofort haben wir wieder die elende Diskussion darüber, dass alle Einwanderer und Muslime Kriminelle sind. Und welche Parteien davon profitieren, wissen Sie auch. «
An die Wahl hatte sie noch gar nicht gedacht. Dennoch. »Klar, ich verstehe Sie. Und Sie müssen machen, was Sie für richtig halten. Aber wenn Sie dazu meinen Segen wollen, kann ich Ihnen den nicht geben. Nur weil man etwas unter Zeitdruck macht, heißt das nicht, dass es richtig ist, einem pseudowissenschaftlichen Vorschlag eines selbst ernannten Wolfsspezialisten zu folgen.« Keine wirklich vernichtende Retourkutsche, aber hoffentlich doch zumindest ein kleiner Schlag in die Magengrube.
»Jetzt hören Sie aber mal!«, echauffierte sich Fallender.
»Verstanden.« Ewald ging auf seine Beschwerde zum Glück nicht ein. »Haben Sie einen besseren Vorschlag?«
Ewalds Leute arbeiteten jetzt seit Monaten an dem Fall, aber von ihr erwarteten sie einen brauchbaren Vorschlag innerhalb von Minuten. Natürlich hatte sie keinen. »Leider nein.«
»Ach, ne!« Fallender suchte den Blickkontakt zu Ewald. »Die Masche ist mir ja am liebsten.«
Wiederum ignorierte Ewald Fallenders Kommentar, was ihm Lena hoch anrechnete. Er wandte sich an seine Kollegen. »Was meinen Sie?«
»Wir sollten es zumindest probieren«, sagte der Sunnyboy nach kurzem Überlegen. »Ich denke, der Zeitpunkt könnte günstig sein. Sie wissen schon, wegen dem familieninternen Streit.«
Wie süß, dachte Lena. Er kann sogar sprechen. Sie richtete sich an ihn. »Wie war noch mal Ihr Name?« Lena war sich nicht sicher, ob Ewald ihn überhaupt namentlich vorgestellt hatte.
»Locke.«
»Herr Locke. Eine kleine Familienfehde?« Sie sah ihn ernst an. »Wie häufig streiten Sie sich mit Ihren Eltern und Geschwistern?«
Locke zuckte mit den Schultern.
»Denken Sie mal an Weihnachten. Ist ja noch gar nicht lange her. War da alles harmonisch?«
»Was hat das hiermit zu tun?« Locke sah unsicher zu Ewald und dem Stasi-Pagenkopf.
»Wir kennen sie doch alle, die Streitigkeiten in der Familie. Hoch emotional, beleidigend, scheinbar zerstörerisch. Und dennoch, würden Sie deshalb Ihre Geschwister, Ihren Vater oder Ihre Mutter ans Messer liefern?«
Lena stand auf und hielt Ewald, der immer noch vor ihr stand, die Hand zum Abschied entgegen. »Wiedersehen.«
Sie hatte beschlossen, dass es jetzt das Beste war zu gehen. Nur so konnte sie vermeiden, dass es nicht doch noch zu einem Eklat kam, den sie später bereuen würde.
»Und …« Sie sah noch einmal in die Runde. »Ein arabischer Clan ist sicherlich nicht mit einem Wolfsrudel gleichzusetzen. Vielleicht gibt es ein schwarzes Schaf, das bereit wäre, seine Familie zu verraten. Aber eines kann ich Ihnen sagen: So äußerlich zerstritten und kaputt eine Familie auch erscheinen mag, unterschätzen Sie nie ihre Bindungskräfte.«
Michael hatte sich in der Zwischenzeit neben sie auf die Couch gesetzt und massierte ihren Nacken. Ihn schienen ihre Ausführungen eher zu amüsieren, als zu erschrecken.
»Du bist einfach unverbesserlich«, sagte er kichernd. »Und wie hat Ewald auf deinen grandiosen Abgang reagiert.«
»Das ist nicht witzig!«, beschwerte sich Lena, doch auch sie konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. »Ich vermute, dass er es trotzdem versuchen wird. Ein Agent wird jetzt auf das vermeintliche Omega-Tier zugehen, um es zu drehen. Ich nehme mal stark an, dass man Geld anbieten wird. Wofür man für so ein Vorgehen allerdings diesen Idioten brauchte, ist mir schleierhaft.«
»Zur Identifizierung des Omega-Tiers.«
»Ich weiß nicht.«
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