»Plan?«, fragte Lena. Von einem Plan war bisher zumindest in ihrer Anwesenheit noch nicht die Rede gewesen. »Was denn für einen Plan?«
»Das Omega-Tier im Clan auf unsere Seite zu ziehen.« Ewalds Augen blitzten. »Denn auch wenn das Omega-Tier zur Gruppe gehört und von ihr ernährt wird, so träumt es doch davon, selbst mal Chef zu sein, der Stärkste, derjenige, der gefragt ist. Im besten Fall wurde es sogar so stark erniedrigt, dass es Rachegedanken hegt.«
»Ist das denn nicht ganz normales kriminaltechnisches Vorgehen, was Sie da gerade beschreiben?«, fragte Lena, über diesen Vorschlag doch etwas verwundert. Sie bemerkte, wie sich Ewalds Kollegin ein Lachen verdrückte, während sich Fallenders Schultern wieder zu spannen begannen.
»Ja, schon«, gab ihr Ewald leicht zerknirscht recht. »Das Problem ist nur, dass wir es noch nicht anwenden konnten. Die Jungs von der Organisierten Kriminalität hatten sich als neuen möglichen V-Mann einen Neffen von Vahid Aziz rausgesucht. Doch nach meinem Gespräch mit Herrn Fallender ist mir klar geworden, dass das der komplett falsche Mann wäre. Null Omega-Tier. Irgendjemand aus dem Mittelbau, der mit seiner Funktion eigentlich zufrieden ist. Stimmt’s?«
Er sah in Richtung seiner Mitarbeiterin. »Richtig.« Sie nickte und sah zu Lena. »Vielleicht kurz zu meiner Rolle. Ich koordiniere in diesem Fall die unterschiedlichen Bereiche der Polizei und des Verfassungsschutzes. Eigentlich bin ich auf Wirtschaftskriminalität spezialisiert, doch seit einem guten Jahr bei Herrn Ewald eingeteilt. Und in der Tat haben da die Kollegen nicht wirklich sauber gearbeitet.«
Ewald nickte zufrieden. »Dieses Mal machen wir es richtig. Dank Herrn Fallenders Analysen wissen wir jetzt, wer das Omega-Tier ist – ein Sohn von Vahid Aziz. Was meinen Sie?«
Alle, mit Ausnahme des Sunnyboys, der auf seine Schuhe starrte, blickten gespannt zu Lena.
»Schlechter Plan.«
Sogar der Sunnyboy sah dieses Mal auf. Und Fallender fiel die Kinnlade runter, was ihm gar nicht so schlecht stand, fand Lena.
»Wie, schlechter Plan?« Ewald war direkt lauter geworden. »Warum?«
»Zugegeben, ich kenne mich mit Clanfamilien nicht wirklich aus, und Ihre Idee mag aus kriminalistischer Sicht ein übliches oder gutes Vorgehen sein. Aus biologischer Sicht spricht meiner Ansicht nach jedoch vieles dafür, dass die Regeln einer Hackordnung nicht unbedingt eins zu eins auf einen Clan anwendbar sein müssen. Ich wäre hier vorsichtig. Wolfsfamilien zum Beispiel funktionieren, den neuesten Beobachtungen folgend, nach ganz anderen Regeln.«
»Und zwar?«
Lena sah in die Runde. »Im Wolfsrudel gibt es kein Omega-Tier.«
Es war bereits später Abend, als Ewalds Männer Lena bei ihr zu Hause absetzten. Im Wohnzimmer brannte noch Licht. Während Lena in ihrer Tasche nach dem Haustürschlüssel suchte, fielen ihr ein paar Fußspuren im frisch gefallenen Schnee auf. Ein näherer Blick sagte ihr sofort, dass diese eindeutig nicht von Ewalds Leuten oder ihr stammten. Es waren Abdrücke von Schuhen mit Absätzen, die tief in den Schnee eingedrungen waren, wahrscheinlich Damenstiefel.
Hatte Michael etwa noch Besuch? Und wenn ja, von wem?
Lena ging zum Wohnzimmerfenster und spickte durch die Scheiben. Es dauerte einen Augenblick, bis sie ihn in seinem Lieblingssessel entdeckte – einem aus ihrer Sicht hässlichen amerikanischen Giganten, den man mit einem seitlich angebrachten Hebel in eine Art Liege verwandeln konnte. Der Fernseher lief, sonst war aber niemand zu sehen. Dafür fiel Lena etwas anderes auf; die Schauspieler im Fernseher, obwohl allesamt keine Hollywoodstars, waren ihr wohlbekannt.
Dieser Schuft!
Sie ging zur Haustür und öffnete sie leise. Dann riss sie die Tür zum Wohnzimmer auf.
»Verräter!«
Michael zuckte erschrocken zusammen. »Lena!« Er hielt sich die Hand ans Herz. »Hast du mich erschreckt!«
»Zu Recht«, schimpfte Lena. »Schaust einfach unsere Serie weiter. Ohne mich!«
Es war in der letzten Zeit zu ihrem abendlichen Ritual geworden. Sie kümmerte sich um das Abendbrot, brachte Jean ins Bett und las ihm noch eine kurze Geschichte vor, dann schlüpften sie und Michael in ihre Pyjamas, holten eine Tüte Chips oder eine Tafel Schokolade aus dem Schrank und setzten sich vor den Fernseher. Diese neuen Serien waren wirklich schlimm, so gut waren manche von ihnen. Am liebsten hätten sie oft zwei Folgen hintereinander angesehen, doch das sprach gegen ihre zwei Regeln: nur eine Folge pro Abend. Und man wartete auf den anderen.
»Sorry!« Michael grinste verlegen. Er kam auf sie zu, küsste und drückte sie kurz. »Wir schauen sie noch mal gemeinsam. Von vorn. Okay?«
»Aber wehe du spoilerst!«
»Keine Sorge.«
Sie ließ sich erschöpft auf die große englische Ledercouch fallen, einem wirklichen Schmuckstück im Gegensatz zu Michaels Sessel. Kein Wunder, dass sie es mit in die »Ehe« gebracht hatte. Sie schätzte Michael für vieles, aber nicht für seinen Möbelgeschmack.
»Und?«, fragte er. »Was wollte Ewald?«
Lena erzählte ihm von dem wahrscheinlich bevorstehenden Anschlag, Ewalds Problemen bei der Unterwanderung des Clans und dass sie ihm leider auch nicht hatte weiterhelfen können. Und sie berichtete davon, wie das Treffen geendet hatte.
Für einen Moment war es im Raum totenstill gewesen. Lena hatte zu dem »Sunnyboy« gesehen, der an seinen Fingernägeln fummelte, während er auf die Reaktion von Ewald wartete. Die »Stasi-Statistin« hatte sich mal wieder etwas notiert.
»Wie, es gibt in Wolfsrudeln kein Omega-Tier?« Fallender reagierte vor Ewald. Seine Pupillen hatten sich geweitet. Und auch wenn er seine Stimme unter Kontrolle hatte, merkte Lena, dass er sich innerlich darauf vorbereitete, auf sie loszuspringen.
»So ist es.«
Fallender sah zu Ewald, dann lachte er hohl. »Sie wollen also die Ergebnisse jahrzehntelanger Wolfsforschung infrage stellen?« Jetzt wurde sein Ton schon schärfer.
»In der Tat.«
Wieder lachte Fallender kurz auf. »Wo haben Sie denn die ausgegraben?«, fragte er Ewald gespielt brüskiert.
Lena fuhr ein kalter Schauer über den Rücken. Das konnte sie am wenigsten ausstehen, Menschen die über sie redeten, als wäre sie gar nicht anwesend. Wer meinte dieser Typ eigentlich, wer er war? Wollte ausgerechnet er ihr erzählen, wie Wolfsfamilien funktionierten, nur weil er ein populärwissenschaftliches Buch über sie gelesen hatte?
Früher wäre sie spätestens jetzt ausgerastet. Noch als Studentin wäre sie aufgestanden, hätte nach etwas gesucht, mit dem man Fallender bewerfen könnte, und hätte genau das dann auch getan, während sie ihn übelst beschimpft hätte. Doch mit der Zeit hatte sie gelernt, sich mit unterschiedlichen Methoden halbwegs im Zaum zu halten. Eine davon war, sich Fallender als kleinen Jungen vorzustellen, der ihr so dermaßen unterlegen war, dass es einfach nicht richtig erschien, ihn anzufluchen. Genau das tat sie jetzt.
»Frau Bondroit.« Ewald hatte sich ihr zugewendet. »Das, was Sie da behaupten – ist das bewiesen oder nur ihre persönliche Meinung?«
Was für eine Frage? Was war denn in den Naturwissenschaften schon bewiesen? Selbst große Biologen und Nobelpreisträger hatte man immer wieder widerlegt. Aber natürlich war es der aktuelle Stand der Forschung. Mit etwas anderem würde sie – im Gegensatz zu diesem Quacksalber – nicht hausieren gehen.
»Es ist das Ergebnis meiner neuesten Beobachtungen, aber nicht nur von mir, sondern auch von vielen Kollegen. Es gibt Veröffentlichungen dazu. Früher war man da in der Tat anderer Ansicht.« Lena ärgerte sich, dass sie es für nötig empfunden hatte, auf die Meinungen anderer zu verweisen.
Sie konzentrierte sich wieder auf Fallender und musste feststellen, dass sie sich ihn erschreckend gut als Kind vorstellen konnte. Sie sah es förmlich vor sich, wie er auf dem Schulhof von seinen Mitschülern verprügelt wurde.
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