»Stimmt«, gab ihm Lena recht. »Aber leider verstehe ich immer noch nicht, was Sie von mir wollen?«
Ewald atmete tief durch. »Ganz konkret: Wie infiltriert man am schnellsten eine Wolfsfamilie?«
Lena sah Ewald überrascht an. »Wie bitte?«
Ewald nickte nur, anscheinend um ihr zu verstehen zu geben, dass sie ihn richtig verstanden hatte.
»Aber Sie stellen mir jetzt hoffentlich nicht diese Frage, weil Sie meinen, dass Ihnen die Antwort bei der Infiltrierung des Clans behilflich sein könnte! Denn dann haben sie etwas an meiner Forschung grundsätzlich nicht verstanden. Sie sollten lieber Clanspezialisten oder Psychologen befragen.«
»Das habe ich bereits.«
»Und?«
»Natürlich ohne Erfolg. Unsere sogenannten Clanspezialisten wärmen immer nur denselben Brei auf, der uns in diesem Fall gar nichts bringt. Und was bitte soll man von den Ideen einer Berufsgruppe erwarten, deren Theorien sich alle paar Jahre als falsch herausstellen und die dann eine Therapie für die Therapie entwickeln?« Ewald lachte laut, stoppte dann allerdings abrupt, nachdem keiner mit ihm mitlachte. Er sah sie durchdringend an. »Frau Bondroit, ganz ehrlich: Wir sind gerade am Ende mit unserem Latein. Die bewährten Methoden, die wir ansonsten anwenden, sei es bei den Kriminalern oder beim Verfassungsschutz, bringen uns in dieser Situation und in der Kürze der Zeit nicht weiter. Wir haben alle uns zur Verfügung stehenden Mittel ausgeschöpft. Wir müssen neue Wege finden, vor allem weil es schnell gehen muss. Wir müssen herausfinden, was der Clan vorhat. Und da musste ich an unser Gespräch an Weihnachten denken. Clan. Rudel. Sie wissen schon. Da gibt es doch bestimmt Parallelen. Auch das Verhalten der Ameisen damals hat uns bei der Aufdeckung des Skandals geholfen. Ich brauche neue Ideen, Impulse, etwas, an das wir noch nicht gedacht haben. Denn eines ist klar: Wenn wir so weitermachen wie bisher, werden viele unschuldige Menschen sterben.«
Als Lena Ewald das erste Mal begegnet war, hatte sie ihn gehasst. Seine Passion, Mitmenschen ins Messer laufen zu lassen, um Dampf abzulassen, überhaupt die Art, wie er mit anderen Menschen umging, vor allem mit Frauen. Das alles hatte ihr nicht gefallen. Und wenn man nun sah, wie er mit seinen Mitarbeitern umging und sich in den Mittelpunkt drängte oder wie er Lenas Einwände einfach wegwischte, sprach einiges dafür, dass er sich nicht wirklich verändert hatte. Was sie allerdings schon damals an Ewald schätzen gelernt hatte, war seine Unkorrumpierbarkeit, seine Neugierde und die daraus resultierende Offenheit gegenüber neuen Ansätzen und Strategien. Damit machte er sich in seinem Umfeld sicher nicht nur Freunde, eher das Gegenteil. Manchmal musste man aber wahrscheinlich auf unkonventionelle Ermittlungsmethoden zurückgreifen, wenn man etwas erreichen wollte.
»Sie erklärten mir am Telefon«, setzte er nach, »dass der Grund dafür, dass gerade der Hund weltweit zum ›besten Freund‹ des Menschen wurde, in der dem Menschen ähnlichen Familienstruktur seiner Vorfahren zu suchen ist. Der Umgang mit Familienmitgliedern gleicht sich zum Teil sehr – Ihre Worte«, führte Ewald weiter aus.
»Ich sagte, möglicherweise«, korrigierte Lena. Sie war keine Freundin von absoluten Behauptungen. Es gab viel zu viele Beispiele dafür, dass selbst die sichersten Annahmen widerlegt wurden. Die einzige wirkliche Wahrheit war die, dass meistens nicht nur die Behauptung, sondern auch das Gegenteil zutraf.
»Egal.« Ewald machte eine abwehrende Geste. »Erzählen Sie uns von den Wölfen. Vielleicht kommen uns dann neue Ideen. Wie gelingt es zum Beispiel Wölfen, einem fremden Rudel beizutreten? Sie verstehen, was ich meine?«
»Natürlich verstehe ich«, sagte Lena. »Aber ich muss Sie enttäuschen. Es gelingt ihnen gar nicht.«
»Wie?« Ewald wirkte zugleich überrascht und verärgert.
Aus dem Augenwinkel nahm Lena wahr, wie sich die Mitarbeiterin von Ewald eine Notiz machte. Der Surferboy hingegen schien mit etwas anderem beschäftigt, etwas unter dem Tisch. Wahrscheinlich seinem Handy. Dass das Ewald gar nicht störte, wunderte sie ein wenig.
»Leider ist es so«, erklärte Lena. »Sie müssen wissen, ein Clan ist kein Rudel. Ein Wolfsrudel besteht in der Regel nur aus der Kernfamilie, also Mutter, Vater und ihren Kindern. Ich weiß, dass man lange Zeit davon ausging, dass Mitglieder größerer Wolfsrudel aus unterschiedlichen Familien stammen. Aber das ist falsch. Wölfe von anderen Rudeln werden im Regelfall nicht integriert. Ganz im Gegenteil. Andere Rudel und ihre Mitglieder stellen die Konkurrenz dar, die vertrieben, notfalls sogar vernichtet werden muss. Abgesehen vom Menschen, ist der Wolf dem Wolf der größte Feind.«
»Und dieser Wolfsmann?«, warf er ein.
Natürlich wusste Lena sofort, von wem Ewald sprach: Shaun Ellis – oder »der Wolfsmann«, wie er in vielen Reportagen medienwirksam genannt wurde. Sie kannte ihn nicht persönlich, aber hatte viel von und über ihn gelesen. Ellis hatte Wölfe lange beobachtet, sie gepflegt, Wolfswelpen »adoptiert« und angeblich sogar mit wilden Wölfen zusammengelebt. Auch wenn er und seine Methoden in der Forschung umstritten waren, wenn man es denn überhaupt als solche bezeichnen wollte, konnte man ihm nicht nachsagen, dass er nicht viel Zeit mit Wölfen verbracht hatte. Und glaubte man seinen Erzählungen, dann war es ihm tatsächlich gelungen, das Vertrauen einer wilden Wolfsfamilie zu gewinnen. Dennoch bezweifelte Lena, dass Ewald das Wissen dieses Mannes weiterbringen würde.
»Und?«, fragte Ewald erwartungsvoll.
»Mir scheint es mehr als fraglich, ob sich seine Erfahrungen reproduzieren oder verallgemeinern lassen.«
»Einen Versuch ist es wert.«
»Es wird Ihnen trotzdem nichts bringen.«
»Warum?«
»Weil man Beobachtungen aus der Tierwelt nicht einfach auf den Menschen, geschweige denn auf Clans übertragen kann. Aber vor allem weil Sie bis zu dem Anschlag nur noch elf Tage Zeit haben.«
Ewald schlug mit der Faust auf den Tisch. »Wie lange hat er gebraucht?«
»Monate. Die verwaisten Welpen, die er aufzog, vertrauten ihm als Mutter- und Vaterersatz natürlich schneller, aber das ist ein ganz anderer Fall.«
Ewald legte seinen Kopf in den Nacken und starrte an die Decke. Er stieß genervt oder vielleicht auch nur frustriert Luft aus. »Gut. Verstanden. Wir haben ein Zeitproblem. Aber vergessen wir mal die Zeit. Wie hat er das Vertrauen gewonnen?«
Lena hätte Ewald wirklich gern weitergeholfen. Doch das Vertrauen einer Wolfsfamilie zu gewinnen war eine schwierige Angelegenheit. »Ich rede jetzt nur über Wölfe.«
»Ja, verstanden. Los!«
»Es geht viel um denselben Geruch, dieselbe Art zu kommunizieren, dieselben Rituale und die Bereitschaft, eine bestimmte Rolle einzunehmen. Gerade gemeinsame Rituale halte ich für einen entscheidenden Treiber für Bindungsgefühle und damit auch für Vertrauen.«
Ewald überlegte einen Moment. Dann schüttelte er den Kopf und sprang unvermittelt von seinem Stuhl auf. Als hätte er einen tonlosen Befehl erteilt, packten auch seine Mitarbeiter ihre Papiere zusammen. Der Surferboy zauberte eine selbst gedrehte Zigarette unter dem Tisch hervor, die er auf seine Unterlagen legte. Also doch kein Handy.
Lena war über die überraschende Aufbruchstimmung ein wenig verwundert. »Nicht sonderlich hilfreich, was?«
»Weiß nicht.« Er zeigte auf die Tür. »Ich denke noch mal drüber nach. Doch die Zeit drängt wirklich.« Er öffnete die Tür. »Und daher würde ich Sie gerne mit jemandem bekannt machen.«
Lena folgte Ewald und seinen Mitarbeitern durch die kargen, leeren Flure des großen Gebäudes. Man musste schon ein spezieller Typ Mensch sein, um in einer solchen Umgebung arbeiten zu können, ohne depressiv zu werden. Lena hätte es hier keine Woche ausgehalten. Vielleicht sorgte die ständige Beschäftigung mit dem gewaltsamen Tod dafür, dass man das Fehlen von Farbe und Pflanzen als nicht mehr bedrückend wahrnahm. Vor einer Tür am Ende eines Gangs hielten sie an. Ewald öffnete sie und bat Lena einzutreten.
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