Barbara Schaefer - Lesereise Neapel

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Pizza fritta oder pizza a portafoglio – das ist eine der elementaren Fragen in Neapel. Denn außer der legendären Margherita, die in Neapel erfunden wurde, gibt es pizza hier auch frittiert oder in Papier eingeklappt als Streetfood. Darüber hinaus entdeckt Barbara Schaefer in der süditalienischen Stadt Alltägliches und Überraschendes: Sie befragt eine linke Stadträtin zur Flüchtlingspolitik, lässt sich von einer Sängerin die Wurzeln des neapolitanischen Belcanto erklären, stromert durch den Bauch Neapels entlang der Straßenschlucht Spaccanapoli und spricht mit Frauen über den Ferrante-Effekt.

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Lesereise Neapel - изображение 1

Barbara Schaefer,geboren 1961, schreibt regelmäßig für Zeitschriften und Zeitungen. Im Picus Verlag erschienen ihre Lesereisen Lappland, Amalfi/Cilento und Neapel sowie, gemeinsam mit Rasso Knoller, Inseln des Nordens und Südliches Afrika. Barbara Schaefer war unter den Top Ten »Reisejournalisten des Jahres« 2019. www.barbara-schaefer.de

Barbara Schaefer

Lesereise Neapel

Wo die Fische nach Vulkan schmecken

Picus Verlag Wien

Napule è mille culure Napule è mille paure

PINO DANIELE

Copyright © 2021 Picus Verlag Ges.m.b.H., Wien

Alle Rechte vorbehalten

Grafische Gestaltung: Dorothea Löcker, Wien

Umschlagabbildung: © bluejayphoto/iStockphoto

ISBN 978-3-7117-1101-4

eISBN 978-3-7117-5447-9

Informationen über das aktuelle Programm

des Picus Verlags und Veranstaltungen unter

www.picus.at

Inhalt

Prendiamo un caffè

Wie Neapel den caffè sospeso erfand

Funiculì, Funiculà

Ein Bild von einer Stadt

Spaccanapoli

Eine Straße, die teilt und verbindet zugleich

Neapel sehen

– und Schokolade essen

Der Ferrante-Effekt

Von Frauen und kleinen Machos

Neapel unterirdisch I

Von Gespenstern und Mönchen unter der Stadt

Neapel unterirdisch II

Ein achtzehn Kilometer langes Freilichtmuseum

Über den Dächern der Stadt

Besuch bei der Sängerin Fabiana Martone in Vomero

Made in Cloister

Armenhaus, Kreuzgang, Wollfabrik – neue Orte für die Kunst

»Napule è«

Sanità feiert Totò und Pino Daniele

Die Stadt, der Müll und der Lärm

Manchmal geht einem Neapel ganz schön auf den Wecker

Pavarotti meets Pipilotti

Ein ganz normaler Abend

»Neapel hatte immer diese offene Seele«

Die linke Stadträtin Eleonora de Majo im Interview

Unterwegs mit Migrantour

Eine Stadtführung zu »Tausend Welten am Bahnhof«

Vulkanisches I: Herculaneum

Wie der Vulkan die Psyche beeinflusst – und den Geschmack der Fische

Vulkanisches II: Pozzuoli

Der unbekannte Supervulkan

Gabel für den Adel

Streetfood von pasta bis pizza

Der Lockdown in Neapel

Künstlerinnen erzählen von der harten Zeit

Das Tattoo des Heiligen

»Glaube und Hoffnung« – das verkörpert San Gennaro für Neapel

Prendiamo un caffè

Wie Neapel den caffè sospeso erfand

Der Satz, so schlicht er sein mag, ist praktisch unübersetzbar: Prendiamo un caffè . »Lass uns einen Kaffee trinken« bedeutet er jedenfalls nicht. Das Problem fängt schon damit an, dass Kaffee und caffè zwei völlig verschiedene Dinge sind. Ein Kaffee ist Filterkaffee in einer ordentlich großen Tasse, ein italienischer caffè hingegen, also das, was man auf Deutsch Espresso nennt, auch wenn es in Italien so nicht heißt, ist ein Nichts. Ein guter Fingerhut voll in einer kleinen, dickwandigen Espressotasse. Und sei die Tasse noch so klein, so bedeckt der caffè doch fast nur den Boden. Beinahe könnte man schon die Zukunft aus dem Kaffeesatz lesen, bevor man überhaupt getrunken hat. Getrunken ist er natürlich schnell. Ein Tütchen Zucker aufreißen, reinrieseln lassen, kurz umrühren, zack weg.

Aber auch die Aufforderung, Kaffee zu trinken oder eben einen caffè »zu nehmen«, bedeutet etwas völlig anderes. Unsere Vorstellung davon, sich auf eine Tasse Kaffee zu treffen, meint, in ein Café zu gehen, sich hinzusetzen, Kaffee zu bestellen und vermutlich auch ein Stück Kuchen dazu, während man darauf wartet, plaudert man. Oder gar auf der Straße einen Pappbecher mit sehr viel Milch und nur einem Schuss Kaffee herumzutragen.

Der caffè hingegen steht für die Ouvertüre, damit beginnt alles. Etwa so: Ich habe eine Verabredung mit jemandem, den ich nicht kenne. Sein Büro befindet sich in dem Hochhaus direkt an der Piazza Garibaldi, der Eingang versteckt sich im Bahnhofsinneren. Endlich hat man sich durchgefragt, die Tür gefunden, den Aufzug. In der entsprechenden Etage muss ich mich beim Portier anmelden, der telefoniert, sagt: Einen Moment bitte, man nimmt auf seltsamen Polstermöbeln Platz und endlich kommt er, nennen wir ihn Luca. Händeschütteln, Begrüßung, wir gehen in sein Büro, ich soll wieder Platz nehmen, er räumt Stapel von Zeitungen beiseite, schreibt kurz noch eine Mail und sagt: »Dai, prendiamo un caffè.« Das bedeutet nun natürlich nicht, dass er in eine – nicht vorhandene – Teeküche geht und dort eine Kanne holt, in der seit Stunden Kaffee vor sich hin simmert. Sondern: Wir gehen raus, vor zum Portier, runter mit dem Aufzug, durch den Bahnhof, ciao Enzo, wie geht es dir, wir telefonieren, ciao Maria, ah wir sehen uns nachher gleich. Luca scheint hier viele zu kennen.

Wir gehen in eine Bar. Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen: Eine Bar ist keine Bar, sondern, ja, wie soll man es erklären? Etwas, das sich im deutschsprachigen Raum leider nicht durchgesetzt hat. Ein langer Tresen, dahinter wuselige bariste , die mit Getöse Siebträger ausklopfen, neu befüllen, einspannen, Milch aufschäumen und dabei viele schwungvolle Bewegungen ausführen.

Auf Stühle könnte man sich hier auch setzen. Theoretisch. Was möchtest du? Einen caffè ? Eigentlich ist das keine Frage, tatsächlich möchte ich aber keinen caffè . Ich habe schon vier davon getrunken, nach den zwei cappuccini zum Frühstück. Die schwarze Lava brodelt in meinen Venen, das Herz pumpt wie eine Magmakammer, ich möchte wirklich und ganz bestimmt keinen caffè mehr. Nichts gibt es nicht, also möchte ich ein Mineralwasser. Das geht aber auch nicht, das ist irgendwie zu wenig. Eine Lemonsoda. Ja, endlich ist Luca mit meiner Bestellung einverstanden. Natürlich habe ich keine Chance zu bezahlen. Aber auch die drei Männer, die Luca beim Eintreten begrüßt hat, kommen nicht zum Zug. Luca zahlt fast eine Lokalrunde, die Freunde protestieren angemessen. Wir gehen raus, in den Bahnhof, Luca erklärt, das nächste Mal würden eben die Freunde bezahlen, »so machen wir das in Neapel«.

Wieder spazieren wir durch den Bahnhof, wieder treffen wir auf Leute, und Luca sagt zu ihnen: »Darf ich vorstellen, eine Freundin aus Deutschland.« Das macht den Unterschied: Wir haben schließlich schon einen caffè zusammen getrunken. Wir sind alte Freunde. Als wären wir schon gemeinsam ums Lagerfeuer gesessen.

Prendiamo un caffè ist also ein essenzieller Bestandteil des Lebens in Italien, in Süditalien vor allem. Ein Espresso im Stehen – die Stühle sind wirklich nur Dekomaterial – kostet neunzig Cent, die Vorstellung, sich das nicht leisten zu können, erschütterte die Neapolitaner. Und deshalb erfanden sie den caffè sospeso , einen aufgeschobenen caffè . Das geht so: Man trinkt seinen Espresso, bezahlt aber zwei davon; den zweiten für einen nächsten, unbekannten Gast. Es sei so, als würde ein glücklicher Neapolitaner »dem Rest der Welt einen caffè bezahlen«, beschreibt es der Schriftsteller Luciano de Crescenzo.

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