Das Gran Caffè Gambrinus, das edelste Kaffeehaus Neapels am Ende der Via Toledo, an der Piazza Trieste e Trento, reklamiert für sich, an seinem Tresen sei der »aufgeschobene caffè « das erste Mal serviert worden, und zwar schon Mitte des 19. Jahrhunderts. So steht es auf einer großen Tafel an der Fassade. Andere Quellen schreiben die Anfänge des Solikaffees der Zeit des Zweiten Weltkriegs zu, als es vielen Menschen in der Stadt sehr schlecht ging. Auf jeden Fall Fahrt aufgenommen hat das Caffè -Trinken, und damit auch der sospeso , mit der Einführung der 1905 – ausgerechnet in Mailand – erfundenen Pavoni. Dank der ersten halb automatischen Kaffeemaschine mit dem klassischen Dampfdruckhebel ging das Caffè -Zubereiten so schnell wie ein D-Zug, espresso eben.
Im Gran Caffè Gambrinus steht heute ein großer Metallbehälter, eine historische Kaffeemaschine, sie trägt eine Aufschrift in zahlreichen Sprachen, hier könne man einen scontrino , also den Kassenzettel, für einen caffè sospeso hinterlassen.
Andere Bars in der Altstadt weisen mit einem Foto auf den Gebrauch des sospeso hin. Es zeigt eine Filmszene mit Totò, dem berühmtesten neapolitanischen Schauspieler. Wie verwoben die Stadt und der caffè sind, belegt auch eine andere Filmszene, darin erklärt die junge Sophia Loren, aufgewachsen in der Nähe von Neapel, das perfekte Rezept für das Getränk. Natürlich röstet sie die Bohnen dafür selbst, wie sie heiter und im Dialekt erklärt. Die Balkonszene aus dem Film »Questi fantasmi« ist die Abwandlung einer Komödie eines weiteren berühmten Neapolitaners, Eduardo de Filippo.
Und wer irgendwo Straßenmusiker mit traditionellem Repertoire stehen sieht, muss nur ein, zwei Lieder abwarten, dann wird der neapolitanische Gassenhauer »A tazz’ e cafè« erklingen, und die Umstehenden werden einstimmen: »Vurría sapé pecché si mme vedite, facite sempe ’a faccia amariggiata …« »Ich würde gerne wissen, warum du immer so ein saures Gesicht machst, wenn du mich siehst«, heißt das in etwa aus dem Neapolitanischen übersetzt. In der canzone von 1918 jammert ein Besucher, warum die barista Brigida ihn so schlecht behandelt. Sie sei wie eine tazza di caffè : Tief drinnen süß, aber auf der Oberfläche bitter. Er aber brauche »das Süße der Tasse« jeden Tag.
Luca, der bei unserem Barbesuch seine Freunde eingeladen hat, sagt, für ihn sei der caffè sospeso Teil der neapolitanischen Identität. So könne auch irgendein armer Mensch einen caffè trinken. »Wir sehen das als ein Zeichen von Normalität und von Würde. Es bedeutet: Du bist noch Teil der Gesellschaft«, sagt der Neapolitaner.
Funiculì, Funiculà
Ein Bild von einer Stadt
Eine lang gezogene Bucht, eine ausufernde Stadt und ein doppelgipfliger Berg – Neapel ist ein Bild von einer Stadt und auch auf häufig abgebildet. Spätestens seit der Grand Tour, als junge Adelige – oft aus England – zu antiken Stätten im Süden des Kontinents aufbrachen, wurde Neapels unverwechselbare Silhouette immer wieder gemalt. Und die Gemälde zogen wiederum neue Reisende an, nicht anders als heute Instagram. Ein bisschen ähnelt die Idee der Grand Tour ohnehin dem Gap Year, wenn heute Schulabgänger erst einmal etwas von der Welt sehen wollen, bevor sie sich beruflich und mit der Familienplanung festlegen.
Viele der damaligen Reisenden kamen nur bis Rom, einige schafften es bis Neapel, Goethe kam am 25. Februar 1787 an, blieb fast fünf Wochen, bestieg den Vesuv, bereiste Pompeji und wandelte stundenlang durch die Gassen Neapels, der bei Weitem größten Stadt, die er je bereiste. Andere folgten ihm, um ausrufen zu können, was Goethe als Motto seiner »Italienischen Reise« vorangestellt hatte: »Auch ich in Arkadien!«
Wie aber kann man sich dieses Bild der Stadt selbst aneignen, wo sieht man sie so ikonografisch, wie sie Carl Blechen und Carl Götzloff malten – und wie sie die Wand so mancher Pizzeria auch in Deutschland ziert? Davon abgesehen, dass viele der Gemälde natürlich idealisierte Versionen Neapels abbilden und nicht die wirkliche Stadt am Golf – den besten Blick genießt man vom Meer aus. Eine Reise nach Ischia oder Capri lohnt sich also nicht nur wegen dieser hübschen Inseln, sondern wegen des Blicks von der Fähre aus zurück.
Aus der Altstadt heraus sieht man – nichts. Die eng stehenden Häuser geben gerade mal ein Stück Himmel frei, garniert mit der Wäsche des Tages auf Leinen von Haus zu Haus. Man muss hinauf, etwa auf den Vomero, und sei es nur, um runterzuschauen. Zum Glück gibt es dafür die Standseilbahnen. Wer nun zu trällern anhebt: »Funiculì, Funiculà«, hat den richtigen Ton getroffen. Funiculì bedeutet im Dialekt Seilbahn, damit gemeint war die berühmteste, die auf den Vesuv hinaufführte.
Der »Funicolare del Vesuvio« wurde am 6. Juni 1880 eingeweiht. Die Seilbahn funktionierte als Pendel – der abwärtsfahrende Wagen zog den zweiten an einem Stahlseil nach oben. Passend dazu wurde ein Werbesong komponiert, das bis heute berühmte »Funiculì, Funiculà«. 1944 zerstörte ein Ausbruch des Vesuvs die Seilbahn komplett, sie wurde nicht wieder aufgebaut.
Doch in Neapel sind weiterhin vier moderne Standseilbahnen in Betrieb, ein praktisches, schnelles und günstiges öffentliches Verkehrsmittel. Zwei davon, Chiaia und Monte, gingen ebenfalls schon in den 1880er-Jahren in Betrieb, die beiden anderen entstanden vierzig Jahre später, um die neuen Wohnquartiere auf dem Hügel Vomero leichter erreichbar zumachen.
Oben angekommen, kann man endlich einen Blick auf die ausufernde Stadt werfen, die lang gezogene Bucht, den doppelgipfligen Vulkan. Um dann wieder einzutauchen in die Altstadt, gerade so, wie Goethe es beschrieb: »Zwischen einer so unzählbaren und rastlos bewegten Menge durchzugehen, ist gar merkwürdig und heilsam. Wie alles durcheinander strömt und doch jeder Einzelne Weg und Ziel findet! In so großer Gesellschaft und Bewegung fühle ich mich erst recht still und einsam; je mehr die Straßen toben, desto ruhiger werde ich.«
Am besten wirft man sich dafür in die Straßenschlucht Spaccanapoli, mehr dazu auf den nächsten Seiten.
Spaccanapoli
Eine Straße, die teilt und verbindet zugleich
Es tropft und riecht nach Waschmittel. Wie ein messerscharfer Schnitt durch eine Buttertorte zerteilt die Via Pasquale Scura die Altstadt Neapels. Mit dieser engen Straße beginnt Spaccanapoli, eine Abfolge von sieben Straßen, deren Name tatsächlich dies bedeutet: Neapelzerteilerin. Vor allem von oben, vom Stadthügel Vomero aus, ist diese Schneise gut zu erkennen. Dabei ist die Straße genau genommen älter als die Häuser an ihren Seiten, denn sie folgt bis heute dem Decumanus, der wichtigsten Ost-West-Achse der antiken römischen Stadt – die auch schon ihrem griechischen Vorläufer in Neapolis, der Neuen Stadt, entsprach.
Steigt man vom Vomero steile Treppen hinab, kann man sich direkt in Spaccanapoli einfädeln und gelangt mitten hinein in den Bauch Neapels. Es tropft und riecht nach Waschmittel, weil hier traditionell die Wäsche über die Gasse gespannt wird, heute war Feinwäsche dran, Dessous baumeln an den Wäscheleinen. Darunter verkauft Electrolux Haushaltsleitern und Bügeleisen. Die Bäckerei Pane, Amore e Fantasia wird umlagert von Nachbarinnen, cornetti und pane – das Gebäck des Hauses – müssen wohl gut sein. Einer auf einem E-Bike mit dicken Reifen kommt vorbei, grüßt den Bäcker. Es folgen ein Wettbüro, eine polleria , also eine Hähnchenbraterei, ein Obststand, ein Putzmittelladen; hier wohnen die, die schon immer hier wohnten, auch wenn das nun als Fußgängerzone ausgewiesen ist. Das heißt, hier fahren also fast nur Motorroller; umkurven erschreckend nah die Passanten. Abstand halten? Solange dich der Rückspiegel nicht streift, ist doch alles in Ordnung.
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