Es liegt nahe, an diesem Punkte auch einen Seitenblick auf Beethovens Altersgenossen (und in mancher Hinsicht auch Geistesverwandten) Friedrich Hölderlin zu werfen, auf dessen Gedichte Kurtág später in seinen Kompositionen Friedrich Hölderlin: An … (Ein Fragment) (1988/89) sowie Hölderlin-Gesänge (1993–97) rekurrierte. Er partizipiert auch mit diesen Stücken an einer Traditionslinie innerhalb der Neuen Musik. Deren Kern besteht darin, das Denken und die Dichtung Hölderlins als Kristallisationspunkt einer Dialektik zwischen Innerlichkeit und Öffentlichkeit aufzufassen. 6Die »innerliche« Seite zumindest einiger Werke ist als das zu charakterisieren, was sie wohl auch in Kurtágs 1. Streichquartett – und fortan in so vielen anderen Werken von ihm – ist: als Rückzug in einen geschützten, nicht von zu großen Verständlichkeits-Erwartungen limitierten Gestaltungs- bzw. Erfahrungsraum, als Ort der Reflexion unterschiedlichster Ausdrucks-, aber auch Aussage-Momente (die durchaus auch emphatische und sogar politische oder religiöse Momente umfassen können). Damit verbunden ist die Hoffnung, mit einem offenen Publikum rechnen zu können, das Musik nicht bloß konsumiert, sondern über sie spielend oder hörend zu reflektieren sucht (auch dies ist ein deutliches Anknüpfen an die seit der Beethoven- und Hölderlin-Zeit geläufigen Erwartungen an Kunst).
Kurtág war sich stets dessen bewusst, dass dies im Rahmen des Konzertbetriebs – und zwar diesseits und jenseits des Ost und West bis 1989 trennenden »Eisernen Vorhangs« – keineswegs selbstverständlich ist, sondern der nachdrücklichen Förderung bedarf, damit jene Kultur des Hörens nicht versandet oder verloren geht, auf die schon Beethoven oder Schumann mit ihren Werken und Überlegungen zielten (bei beiden war dies bekanntlich grundiert durch kritische Äußerungen zur Gefahr der puren Äußerlichkeit im Musikbetrieb). »In der letzten Zeit kann ich nur solche Musik anhören, die geistig geprägt ist, die geistige Anstrengung spüren lässt«, lautet ein charakteristischer Satz Ligetis, den Kurtág im Jahre 1993 in seiner Laudatio über den befreundeten Komponisten zitierte. Er ließ dabei erkennen, dass dieselbe Forderung nach »geistiger Anstrengung« auch sein eigenes Credo ist. 7Fast alle Aktivitäten Kurtágs, als Lehrender, beim Einstudieren seiner Werke, aber vor allem beim Komponieren, markieren einen hierauf beziehbaren nachdrücklichen Einsatz für eine emphatische Kultur des Hörens. Mit derselben Emphase, die als radikale Innerlichkeit charakterisiert werden kann, hängt zunächst sein Sinn für das Entfalten von kleinen, intimen Besetzungen zusammen, aber auch für den Versuch, das in ihnen Erprobte auf größere Kontexte wie Orchestermusik und Oper zu übertragen – wobei sich das Komponieren hier wie dort immer wieder bestimmter Bündnisse mit jener Art von Dichtung versichert, die einen besonderen Impuls zur Denk- und Hör-Genauigkeit in sich trägt.
Man mag zur Vertiefung dieses Gedankens ein anderes Streichquartett in die Überlegungen einbeziehen, zumal dessen Komponist mit Kurtág viele Jahre freundschaftlich verbunden war. Gemeint ist jenes recht oft gespielte Werk von Luigi Nono, das den unmittelbar auf Hölderlin verweisenden Titel Fragmente – Stille. An Diotima trägt und das 1980 entstand, also fast zeitgleich mit Kurtágs Chorkomposition Omaggio a Luigi Nono (der Nono im Jahre 1983 mit dem Vokalwerk Omaggio a György Kurtág antwortete). Nonos Kammermusikwerk, als »ungeschützte Selbstbefragung« 8charakterisierbar, ist auf Texte Hölderlins bezogen. Und seinen Gestus beschrieb der Komponist selbst im Rekurs auf den Dichter dadurch, dass dessen Klänge »auf ›die zarten Töne des innersten Lebens‹ (Hölderlin) hinstrebten«. 9Gerade diese Akzentuierung verbindet Nono mit der Einsicht, dass Innerlichkeit in manchen Fällen nicht als Flucht ins Private, sondern als Akt der Sensibilisierung durch Kunst und mithin sogar als eine Art Politikum gesehen werden kann. 10Es geht ihm um eine Wachheit, die weit über Kunstdinge hinauszureichen vermag. Besonders an diesem letzten Punkt scheint das Denken von Kurtág mit jenem von Nono in spezifischer Weise verbunden zu sein.
Doch eine vergleichbare Grundhaltung spürte Kurtág gewiss auch aus vielen anderen Kompositionen, denen er bereits während seines ausführlichen Aufenthalts Ende der 1950er Jahre in Frankreich und Deutschland begegnete. Ein besonders wichtiges Indiz zum Verständnis seiner damaligen ästhetischen Neuorientierung ist seine Begeisterung nach den Begegnungen mit Ligetis elektronischem Stück Artikulation sowie mit Stockhausens Orchesterwerk Gruppen, die er beide auf der Rückreise von Paris im Jahre 1958 in Köln erlebte. Auch diese Begegnungen waren für ihn wichtige Initialerlebnisse. »Es schien, als hätte sich alles, was ich in Paris erfahren habe über gespannte Konzentratformen, in Köln musikalisch realisiert. Und das wurde für mich maßgeblich«, äußerte er selbst hierzu. Und mit Blick auf Stockhausens Werk schwärmte er sogar: »Wenn Dostojewski gesagt hat, die ganze russische Literatur komme aus dem Mantel von Gogol, dann kommt die ganze Musik des 20. Jahrhunderts nach 1950 aus Stockhausens Gruppen.« 11Was beide Werke miteinander verbindet und ihre mit diesen Worten wohl gemeinten Potenziale ausmacht, ist ihr Vermögen, das zugleich zu vergegenwärtigen, zu verschleiern und zu befragen, was Ligeti »Fetzen, Floskeln, Splitter und Spuren aller Art« 12nannte und als Indizien einer »nicht-puristischen Musik« charakterisierte. Kurtág hat in seiner Ligeti-Laudatio gerade auf diese Charakterisierung Bezug genommen – und deren Relevanz fürs eigene Schaffen und dessen eigene »gespannte Konzentratformen« durchblicken lassen. 13Auch hat er bei dieser Gelegenheit akzentuiert, dass aus seiner Sicht gerade Artikulation sowie das Orchesterwerk Atmosphères die überzeugendsten Teile von Ligetis Schaffen bildeten. Man kann dies sogar als implizite Kritik an jener Tendenz zu größerer Deutlichkeit lesen, die einige von Ligetis späteren Werken kennzeichnet. 14
Bei alledem lässt sich Kurtágs eigene Instrumentalmusik mit ihren eigenen »Spuren aller Art« als Inbegriff einer nicht-puristischen Musik bezeichnen. Dies ist auf unterschiedlichsten Ebenen erfahrbar, zu denen außer innermusikalischen Elementen auch Werktitel, Satzbezeichnungen, Spielanweisungen, Opus-Zahlen und ganz besonders Widmungen gehören. Allenthalben sind Kurtágs kompositorische Konzentrate durchzogen von intertextuellen Bezügen, aber auch von Assoziationen, Anspielungen und imaginären Momenten, die das Zusammenspiel von Klang und Semantik immer wieder neu schattieren und akzentuieren. Das Spiel mit unterschiedlichsten Zeichen und Botschaften stützt sich dabei mit besonderer Vorliebe auf nicht eindeutige, sondern verklausulierte Elemente – und was mit Blick auf seine Vokalkomposition Botschaften der verstorbenen R. W. Troussowa (1976–80) als »Kunst des Ahnen-Lassens, des Verschweigens, des Nicht-Aussagens« 15charakterisiert wurde, lässt sich gewiss auf etliche andere Werke übertragen.
Kurtág selbst hat bei der Reflexion zu seinem eigenen Umgang mit rätselhaften Zeichen sowohl auf Hölderlin als auch auf Paul Klee rekurriert 16– und ist wohl durch beide inspiriert oder zumindest ermutigt worden. Gerade mit seinem Klee-Bezug 17knüpfte er an einen Künstler an, der mit seinen theoretischen Überlegungen, aber auch mit seinen Werken wie kaum ein anderer für die musikalische Avantgarde nach 1950 prägend war: Boulez schrieb sogar ein kleines Buch über ihn, und auch für andere Komponisten war Klees Denken – und namentlich seine Art der Verschränkung von abstrakten und bildhaften Momenten – enorm wichtig. 18
Speziell Stockhausens Orchesterwerk Gruppen, das mit dieser Grundidee Klees unschwer in Zusammenhang zu bringen ist, dürfte außer durch den Verzicht auf allzu viel Deutlichkeit für Kurtág auch noch in anderer Hinsicht inspirierend gewesen sein: In kühner Weise operiert es nicht nur unabhängig von klassischen Motivbildungen, sondern auch von linearen Verläufen. Von dieser auf völlig neuartige Weise ins Unbekannte spekulierenden Musik erscheint der Schritt nicht weit zu den fein disponierten Kompositionen Kurtágs. Diese sind oftmals bestimmt von monadisch abgeschlossen erscheinenden Einheiten. Doch die Reihung solcher Einheiten, bei der Form nichts Übergestülptes ist, zielt nicht im gewohnten Sinne auf Kohärenz. 19Für den Aspekt des Ausdrucks von ästhetischer Freiheit (im Sinne Schillers), undenkbar ohne ein Wechselverhältnis aus Offenheit und Geschlossenheit, dürfte das genannte Werk Stockhausens eine wichtige Ermutigung gewesen sein. Dies könnte auch für die Tatsache gelten, dass Gruppen sich im Raum entfaltet. Gerade diese Entfaltung folgt zwar einem von Stockhausen entwickelten Modell der Zeitgestaltung, das von der systematischen Erschließung von Bezügen zwischen Tonhöhen und »Zeitintervallen« ausgeht; aber sie weist zugleich deutlich über die auf Kohärenz zielenden Konzepte früherer Raummusik hinaus. Und gerade an diesen Verzicht auf klassische Kohärenz knüpfte Kurtág mehr als zwei Jahrzehnte später in seinen Orchesterwerken 20an (darauf wird noch zurückzukommen sein).
Читать дальше