Sie verließ den Raum, sodass Serena jetzt mit ihrem Bruder allein war. „Ihr wirkt beide ziemlich glücklich.“
„Ja, das sind wir auch“, bestätigte er lächelnd und fuhr dann fort, „aber lenk nicht vom Thema ab.“
„Ich weiß nicht, Jamie. Darüber muss ich wirklich erst nachdenken.“
„Wenn es finanziell schwierig ist, dann können wir …“
„Nein, es ist nicht das Geld. Ich habe die Erlöse aus dem Verkauf meines Anteils gut angelegt, und wenn es sein muss, kann ich sie schnell wieder flüssig machen. Es geht mir eher um die Verpflichtungen, die damit verbunden wären.“
„Und ich habe gedacht, dass du auf jeden Fall gerne auf Skye arbeiten würdest.“
„Das stimmt auch“, erklärte Serena, faltete die Hände auf dem Tisch und sprach dann leise weiter. „Seit Edwards Tod versuche ich dafür zu sorgen, dass Ems und Max’ Leben so zuverlässig und stabil wie möglich weitergeht. Und jetzt, da langsam alles einigermaßen reibungslos läuft, weiß ich nicht so genau, ob ich es wieder durcheinanderbringen will.“
„Was würde denn da durcheinanderkommen? Du kannst deine Marketingideen zu Hause entwickeln, und ein Wochenende im Monat fährst du dann rüber nach Skye, redest mit Malcolm und schaust nach Tante Muriel. Das ist wie alle paar Wochen ein Mini-Urlaub.“
Was Jamie da sagte, klang zwar einleuchtend, aber er hatte die dreistündige Autofahrt noch nie mit zwei kleinen Kindern gemacht. Jetzt klang es vielleicht einfach, aber sie wusste genau, dass es ihnen in ein paar Monaten allen auf die Nerven gehen würde. „Ich weiß nicht … Ich muss wirklich erst darüber nachdenken.“
„Gut. Überleg es dir.“ Jamies Miene hellte sich auf, und auch ohne sich umzudrehen, wusste Serena, dass Andrea mit den Kindern wieder zurückkam; denn immer wenn er mit seiner Frau im selben Raum war, schien er von innen zu strahlen. Die beiden waren so verliebt, dass man ihnen wirklich nur das Allerbeste wünschen konnte.
Max kam direkt auf Serena zugerannt und kletterte ihr mit der Begeisterung eines Dreijährigen auf den Schoß. Em dagegen setzte sich ganz still und leise auf den Stuhl neben ihr.
„Dein Für Elise wird immer besser, Em“, sagte Jamie. „Was meinst du, wann dir deine gemeine Klavierlehrerin endlich mal ein neues Stück zum Üben geben wird?“
Andrea streckte ihrem Mann scherzhaft die Zunge heraus, stupste ihn mit der Schulter an und erklärte: „Sie macht dann mit einem neuen Stück weiter, wenn sie dieses beherrscht. Und nach dem, was ich da gerade gehört habe, ist sie beinahe so weit.“
Serena schaute abwechselnd ihren Bruder und ihre Schwägerin an und empfand dabei ein heftiges inneres Sehnen. Dass sie so harmonisch miteinander umgingen, zeigte einmal mehr, wie gut sie zueinander passten. Sie konnte sich nicht gegen einen Anflug von Widerwillen gegen ihre eigene Situation wehren – nicht dagegen, dass Edward gestorben war und sie verlassen hatte, sondern dagegen, dass sie in ihrer zehnjährigen Ehe nie die Chance gehabt hatte, eine solche Kameradschaft zu erleben. Doch sie hatte Em und Max bekommen, und das überwog alles, was ihr persönlich fehlte.
„Nachtisch?“, fragte Jamie und schob seinen Stuhl vom Tisch fort. „Ich möchte deine ehrliche Meinung dazu hören.“
Eine halbe Stunde später war ihre ehrliche Meinung, dass Jamie den Bäcker als Patissier einstellen musste. Es gab einen kompakten, saftigen Mandelkuchen mit einer hellen Creme, und beides schmeckte so fantastisch, dass sogar Em, die eigentlich gar nicht so gern Süßes aß, alles bis auf den letzten Krümel verputzte.
Als sie schließlich ihre Mäntel anzogen, um zu gehen, hatte Serena das Gefühl, man hätte sie wegrollen können.
„Denk bitte über meinen Vorschlag nach, ja?“, murmelte Jamie noch einmal, als er sie umarmte. „Und gib mir dann Bescheid.“
„Das mache ich“, versprach Serena und umarmte dann Andrea ganz fest. „Haltet mich bitte über die Entwicklung der Adoption auf dem Laufenden. Ich freue mich wirklich sehr für euch.“
Mit Max an der Hand trat sie zur Tür hinaus und ging dann gefolgt von Em die Treppe hinunter zum Auto. Ihr Atem bildete in der kalten Märzluft kleine Wölkchen vor ihrem Mund. Der Kalender mochte sich zwar langsam Richtung Frühling bewegen, aber der Winter klammerte sich noch hartnäckig an die schottischen Highlands. An den schattigen Stellen unter den Hecken, die als Grenzen zu den offiziellen Gärten dienten, lag noch immer Schnee. Serena verstaute ihre Kinder in dem staubigen Vauxhall und schnallte Max auf seinem Kindersitz an.
„Was habt ihr da gerade geredet, Mama?“, fragte Em, als sie vom Grundstück auf die Straße in Richtung ihres Zuhauses fuhren.
„Ach nichts. Nur ein paar geschäftliche Dinge.“
„Fahren wir nach Skye?“
Serena fing den Blick ihrer Tochter im Rückspiegel auf. Wie viel Em von ihrem Gespräch mit Jamie wohl mitbekommen hatte?
„Vielleicht mal zu Besuch. Aber du hast ja Schule und deine Musikstunden, und ich habe meine Kunstkurse. Wir können also gar nicht lange wegbleiben.“
Em ließ sich daraufhin in ihren Sitz zurückplumpsen, und in ihrem Kindergesicht war deutlich Enttäuschung zu lesen.
Als Serena auf die lange Zufahrt zu ihrem Haus bog, reflektierten die großen Panoramafenster das Scheinwerferlicht ihres Wagens und erhellten die ansonsten finstere Umgebung. Ohne das Sommerlaub im Vorgarten sahen die schrägen Dachlinien, der weiße Putz und die Tudor-Verzierungen noch nüchterner und sachlicher aus als sonst. Sie parkte auf der Auffahrt und schaute nach hinten zu den Kindern, um ihnen Anweisungen zu geben, aber Max war schon eingeschlafen und hielt seine abgeliebte orangefarbene Giraffe fest in seiner kleinen pummeligen Kinderhand.
„Nimm deinen Rucksack und geh direkt nach oben ins Bad, ja?“, flüsterte Serena Em zu. „Ich nehme deinen Bruder.“
Em tat, was ihre Mutter gesagt hatte, und Serena hob Max aus seinem Kindersitz. Sie angelte den Hausschlüssel aus ihrer Handtasche, und als sie die stabile Eichentür aufgeschlossen hatte, trug sie ihren Sohn auf sein Zimmer. Noch im Gehen zog sie ihm seine kleinen Turnschuhe aus, legte ihn angezogen, wie er war, ins Bett und deckte ihn zu. Wenn sie Glück hatte, war er von dem späten Abendessen und dem Spielen in Jamies Haus so müde, dass er durchschlafen würde.
Aber wahrscheinlich eher nicht, dachte Serena. Er hatte seit seiner Geburt so gut wie keine Nacht durchgeschlafen, sodass Serena richtig gut darin geworden war, so zu tun, als litte sie nicht unter Schlafentzug und als könne sie ihre Vergesslichkeit nur darauf schieben, dass sie so viel zu tun hatte und alles alleine regeln musste.
„Mama?“, rief Em jetzt. „Kommst du noch und sagst mir Gute Nacht?“
Serena schlich sich aus Max’ Zimmer heraus, zog die Tür hinter sich zu und tapste in den Raum nebenan, wo Em gerade dabei war, sich ihren pinkfarbenen Pyjama anzuziehen. „Das war ja das schnellste Bad aller Zeiten“, sagte sie.
„Du hast nicht gesagt, dass ich baden soll“, entgegnete Em achselzuckend und kroch unter die Bettdecke. „Du hast nur gesagt, dass ich ins Bad gehen soll.“
Serena schmunzelte, setzte sich auf die Bettkante und sagte: „Du weißt, wie lieb ich dich habe, oder?“
„Mehr als Schokolade?“
Serena tat so, als müsste sie erst überlegen, und antwortete dann: „Das ist eine sehr schwere Frage, aber ja, mehr als Schokolade. So, und jetzt beten wir noch.“
Sie hörte zu, wie Em Gott für alles dankte, was sie von ihm bekommen hatte: für ihre Familie, ihr Spielzeug und ihr schönes Haus; aber die Beunruhigung, die Serena verspürte, blieb trotzdem. Sie schob sie weg, soweit sie konnte, gab ihrer Tochter noch einen Kuss auf die Stirn und schaltete dann die Tischlampe in der Ecke ein, bevor sie die Deckenbeleuchtung ausschaltete und das Zimmer verließ. Die seltsame Beunruhigung begleitete sie auch noch auf dem Weg zu ihrem riesigen minimalistisch eingerichteten Schlafzimmer.
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