Daniel und seinesgleichen würden die Debatte um Kunst oder Naturwissenschaft gewinnen, das war ihr klar, und zwar nicht, weil sie recht hatten, sondern weil ihr die Energie fehlte, die Schule vom Gegenteil zu überzeugen. Und sie konnte es den Verantwortlichen nicht einmal übel nehmen. Wie sollte sie denn die Leute von der großen Bedeutung der Kunst überzeugen, wenn es ihr nicht einmal bei ihr selbst gelang?
ÜQ
Die Einladungen zum Essen bei Jamie und Andrea zu Hause waren immer ein Ereignis. Das lag zum Teil daran, dass Andrea ein Händchen dafür hatte, aus ganz einfachen Dingen eine elegante Dekoration zu gestalten, aber in erster Linie war es Jamies Vorstellung von einem kleinen schlichten Essen, das mindestens vier Gänge umfasste. Vielleicht hatte es auch etwas mit der zurückhaltenden Eleganz ihres restaurierten viktorianischen Hauses zu tun, das nur ein paar Kilometer von Serenas Haus entfernt lag. Im Moment verkosteten sie gerade Jamies neue Frühlingsrezepte in der geräumigen, ganz in Weiß gehaltenen Küche.
„Das Lamm ist gut, aber mir fehlt das gewisse Etwas daran“, sagte Serena, als sie endlich Messer und Gabel hinlegte. „Vielleicht liegt es auch daran, dass Bohnen für mich einfach nicht Haute Cuisine sind.“
„Also dann mal unter uns Bohnenhasserinnen … du hast recht“, fügte Andrea hinzu.
„Deshalb nennen wir sie ja extra Butterbohnen“, sagte Jamie. Er schien sich aber dem Urteil der beiden Frauen zu beugen. „Und was ist mit dem Wolfsbarsch?“
„Der ist fantastisch“, antwortete Serena im selben Moment, in dem Andrea „unglaublich“ sagte.
„Dann nehme ich also den Wolfsbarsch auf die Karte“, sagte Jamie. „Ich finde ihn auch besser als das Lamm.“
Serena nickte und trank einen Schluck von ihrem Wein, einem guten, trockenen Riesling, den Jamie aus dem Keller geholt hatte. Ja, ihr Bruder und seine Frau hatten sogar einen eigenen Weinkeller. Sie war immer noch fasziniert davon, dass es ihnen gelungen war, dieses prachtvolle, herrschaftliche Haus so einladend und gemütlich zu gestalten. Letztlich führte sie das auf die Stilsicherheit und das Gefühl für Formen und Farben ihrer Schwägerin zurück.
„Darf ich jetzt Klavier spielen?“, fragte Em, faltete ihre Serviette zusammen und legte sie neben ihren Teller.
„Von mir aus, aber nur, wenn es Andrea recht ist“, antwortete Serena.
„Gern, Em“, sagte Andrea. „Du kannst schon mal an dem neuen Abschnitt arbeiten.“
„Kann ich auch aufstehen?“, meldete sich Max zu Wort.
Serena lächelte ihren Sohn an und sagte dann: „Ja, du darfst auch aufstehen.“
Halb rannten, halb purzelten die beiden Kinder in den Salon, in dem der Stutzflügel stand, sodass die drei Erwachsenen jetzt allein um den runden Glastisch saßen. Es war zwar nicht genau wie in alten Zeiten, aber es war doch schön, endlich wieder Familie in der Nähe zu haben und sie auch regelmäßig zu sehen. Als Edward und sie wegen seines Jobs von Edinburgh nach Inverness gezogen waren, hatte Serena sich in der Kleinstadt erst unendlich einsam gefühlt, doch dadurch, dass nach acht Jahren auch ihr Bruder und seine Frau hergezogen waren, wurde der Ort für sie langsam zu einem wirklichen Zuhause.
„Ich will schon eine ganze Weile mit dir reden“, sagte Jamie jetzt.
Serena trank lächelnd einen weiteren Schluck Wein. „Oh, das klingt ja unheilvoll.“
„Nein, es ist nichts Schlimmes. Ich wollte nur wissen, was du von der Idee hältst, wieder in unserem Hotel auf Skye mitzuarbeiten.“
„Beteiligt sein? Wie stellst du dir das denn konkret vor? Die Renovierungsarbeiten sind doch abgeschlossen und der neue Manager hat schon angefangen.“
„Ja, das stimmt. Meine Frage ist, ob du dir vorstellen könntest, wieder aktive Teilhaberin des Hotels zu werden und deinen Anteil zurückzukaufen.“ Jamie griff nach der Weinflasche und schenkte ihr nach. „Seien wir doch mal ehrlich. Ian und Grace sind kaum noch im Land, seitdem sie ihre neuen Jobs haben. Andrea leitet ihre Unternehmensberatung, und ich habe immer noch niemanden gefunden, der die Stelle als Küchenchef in Notting Hill übernimmt, nachdem Jeremy gegangen ist. Wir sind kaum zu Hause, geschweige denn auf Skye.“
„Und warum ausgerechnet jetzt?“, fragte sie. „Ian und du habt doch euren Streit beigelegt, also braucht ihr mich nicht mehr als Schiedsrichterin.“ In diesem Moment registrierte Serena, dass Jamie und Andrea unter dem Tisch Händchen hielten. „Du bist schwanger! Wollt ihr deshalb, dass ich einspringe?“
Da geriet Andreas Lächeln ins Stocken und sie sah Jamie unsicher an. Serena wurde ganz bange ums Herz. „Tut mir leid. Ich hätte nicht …“
„Nein, ist schon gut“, sagte Andrea und atmete tief durch. „Wir versuchen es ja erst seit sieben Monaten, aber die Ärzte sind sich einig, dass es dauern kann, weil so einiges bei mir dagegenspricht, dass ich ein Kind bekommen kann.“
Serena hatte jetzt so heftige Schuldgefühle, dass sich ihr Magen schmerzhaft zusammenzog. Sie war einfach davon ausgegangen, dass die beiden irgendwann eine Familie gründen würden, aber weder Jamie noch Andrea hatten bisher erwähnt, dass das nicht so ohne Weiteres möglich war. Sie suchte nach einem Ausweg aus ihrem Fauxpas, aber bevor sie etwas sagen konnte, erklärte Jamie: „Deshalb möchten wir ein Kind adoptieren und sind gerade mitten im Vorbereitungsprozess dafür.“
Serena blinzelte kurz und dann ging ein Lächeln über ihr Gesicht. „Wie schön, ich freue mich für euch! Ihr werdet bestimmt großartige Eltern sein. Ich hatte wirklich keine Ahnung, dass ihr an eine Adoption denkt.“
„Das ist eigentlich Ian zu verdanken“, sagte Andrea, und ihr Lächeln kehrte langsam wieder zurück. „Grace und er reden ständig über die vielen Waisenkinder bei ihnen in Indien, und dabei ist uns klar geworden, dass es auch in Schottland Kinder gibt, die dringend ein Zuhause brauchen. Wir wissen, dass es nicht leicht ist, ein Adoptivkind großzuziehen, und deshalb möchten wir so viel Zeit wie möglich für dieses Kind haben.“
„Gut. Und wie wollt ihr das praktisch umsetzen?“, fragte Serena und sah dabei Jamie an.
„Andrea hat zwei neue Kundenbetreuer eingestellt, sodass sie nicht mehr zu reisen braucht und von zu Hause aus arbeiten kann. Ich fliege nächste Woche nach London, um dort Vorstellungsgespräche mit möglichen Küchenchefs zu führen, aber das kann dauern. Ich habe da zwar schon jemanden im Auge, aber ich weiß nicht, ob es mir gelingt, ihn von seiner derzeitigen Stelle wegzulocken.“
„Du meinst also, dass du versuchst einen Top-Mann abzuwerben?“, fragte Serena lachend. Es gab in London kaum Restaurants, die bekannter waren als das von Jamie.
Sein kurzes Grinsen bestätigte, dass sie mit ihrer Vermutung richtig lag. „Der Knackpunkt dabei ist, dass wir das Gefühl haben, wir können uns nicht mehr so intensiv um das Hotel kümmern, wie wir es eigentlich möchten und wie es nötig wäre. Malcolm macht seinen Job dort wirklich hervorragend, aber er ist kein Eigentümer. Wir müssen uns immer wieder neue, kreative Angebote überlegen, um neue Gäste anzusprechen. Nach all dem, was du in der Galerie geleistet hast, dürfte das doch für dich eigentlich kein Problem sein, oder?“
„Aber das ist zehn Jahre her, Jamie …“
„Ach was, das Können, das man sich da aneignet, geht doch nicht verloren.“
„… und außerdem habe ich zwei Kinder, von denen eines schon zur Schule geht. Ich kann nicht so spontan weg wie ihr.“
Das Klaviergeklimper im Nebenraum brach jetzt ab, gefolgt von einem lauten Krachen und dann Geheul. Serena legte ihre Serviette auf den Tisch, aber Andrea schüttelte den Kopf und stand selbst auf. „Ich mache das schon. Es kann nichts Schlimmes sein. Im Salon gibt es eigentlich nichts Zerbrechliches.“
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