In mehrere Schichten verpackt, mit Mütze, einem zweimal um den Hals geschlungenen Schal und dicken Handschuhen zog Emma wenig später die Tür hinter sich ins Schloss und trat hinein in die makellose Pracht. Die Stille, die sie umfing, war fast unwirklich. Als atmete die Welt nicht mehr. Mindestens fünfzehn Zentimeter Schnee waren gefallen, stellte sie mit Blick auf die Sitzbank vor dem Fenster fest, die ein dickes weißes Polster trug. Einen Moment lang rang Emma mit sich, ob sie den Schneeschieber holen und den Weg räumen sollte, entschied sich dann aber dagegen. Wozu die Herrlichkeit zerstören?
Vorsichtig setzte Emma ihren im Winterstiefel steckenden Fuß in die weiße Masse und sah zu, wie er eintauchte. „Die erste Spur“, dachte sie beglückt und setzte den zweiten Schritt und den dritten. Dort, wo gestern Trittsteine in der Nässe geblinkt hatten, begann sie ihren Rundgang, watete ein paar Schritte um die Hütte herum. Sie ließ ihren Blick durch den kleinen Garten schweifen, der unter einer weißen Decke ruhte. Hinter dem Staketenzaun, am nahe gelegenen Bach, wirkten die dunklen Tannen mit ihren Schneehauben wie Fremdkörper in der schier endlos weißen Fläche.
Emma hatte Lust auf einen Spaziergang und kurz darauf stapfte sie auf der verschneiten schmalen Straße, die sich aus dem Tal an ihrem Haus vorbei auf einen der Berggipfel wand. Mühsam setzte sie einen Schritt vor den nächsten, keuchte, kam quälend langsam voran, geriet ins Schwitzen. So schwer ihr jeder Schritt auch fiel, sie fühlte sich großartig. Unter ihren Füßen knirschte der Schnee. Das Laufen in der zugedeckten Landschaft, in der alle Konturen verwischt waren, hatte etwas Meditatives an sich. Sinne verloren an Bedeutung, ebenso Zeit und Raum. Alles verlor sich in dieser einzigen weißen Weite. Was blieb, waren Gedanken und ein erhebendes Gefühl. „Die Umgebung ist heilsam für die Seele“, dachte sie, während sie sich beharrlich auf der Straße vorwärts kämpfte, die bald eine ganzjährig bewohnte Hütte passierte. Jedes Mal, wenn sie stehen blieb, versank alles um sie herum in Geräuschlosigkeit. Die Welt war in Watte gepackt – zusammen mit dem Stress und der Hektik des Alltags. Für eine kleine Weile war Emma von dem Rest des Universums abgeschirmt. Und sie verstand, warum Menschen ins Kloster gingen. In der lauten Welt von heute war Stille ein kostbares Gut.
Sie hätte nicht sagen können, wie lange sie bereits unterwegs war. Irgendwann erreichte sie die Brücke, unter der ein Bach verhalten gurgelte. Später im Winter wäre das Wasser unter einer weißbläulich schimmernden Eisschicht verschwunden.
Emma lief weiter. Kurz darauf schob sich etwas Dunkles aus der Flockenwand heraus. Die Perner-Hütte. In den nächsten Tagen würde sie ihren Nachbarn einen Besuch abstatten, aber nicht jetzt.
Zeit für den Heimweg. Bergab lief sie die Straße, auf der ihre Spuren vom Anstieg fast zugeschneit waren, viel schneller als hinauf, zwischendurch geriet sie immer wieder ins Rutschen.
Ein Krächzen über ihr ließ sie innehalten. Der Atem dampfte in kleinen Wolken vor ihrem Gesicht, als sie einer Handvoll Bergdohlen nachblickte, die durch den lichter werdenden Niederschlag flogen. Wie der Wetterbericht vorhergesagt hatte, nahmen die Schneefälle ab. Emma entdeckte ein winziges Stück Blau zwischen den dramatisch aufgebauschten Wolken, deren Formen sich nun immer mehr aus dem grauweißen Einerlei herausschälten. Konnte sie sogar einen der weiß bemützten Berggipfel erkennen?
Mit einem Mal vernahm sie ein tiefes Brummen, ein Geräusch, das langsam aber stetig näherkam. Als sie über die nächste Kuppe schritt, sah sie die blinkenden Lichter des Winterdienstes. Er hatte sich bereits ein ganzes Stück am Berg hochgearbeitet, eine dunkle Schneise der geräumten Strecke hinter sich herziehend.
„Auf die Männer ist Verlass“, dachte sie. Nun würden ihre Freunde nicht mehr lange auf sich warten lassen. „Zeit für Weihnachten“, dachte sie und spürte das Gefühl der Vorfreude in sich aufwallen.
Bettina Schneider: 1968 in Berlin geboren, verheiratet, zwei Kinder und ein Hund, Studium der Betriebswirtschaftslehre, im Anschluss zehn abwechslungsreiche Jahre im Rechnungswesen in der Privatwirtschaft, heute Freiraum für kreative Tätigkeit. Sie schreibt mit Begeisterung Kurzgeschichten und Erzählungen, einige davon sind veröffentlicht. Hobbys: Lesen, Schreiben, Tagebuchschreiben, Spaziergänge mit dem Hund und Joggen.
*
Es knistert und knackt, es klirrt und klingt,
Wenn der Wind in vereisten Zweigen singt.
Es raschelt und rauscht, es rast und saust,
Als ob die Wilde Jagd über den Himmel braust.
Wie schön ist es da unter der warmen Decke,
Wo ich mich mit meiner Taschenlampe verstecke.
Draußen ist’s eisig, hier drin ist es warm.
Ich halte meinen Teddy ganz fest im Arm.
Den hat mir letztes Jahr das Christkind gebracht.
Seitdem schläft er bei mir und das jede Nacht.
Sein Fell ist so weich wie ein wolliges Schaf,
Damit kuschelt es sich so herrlich im Schlaf.
Doch noch bin ich wach und auch gar nicht müd’.
Draußen pfeift der Wind sein frostiges Lied,
Und ich lese meinem Freund, dem Teddy, was vor,
Flüster’ ganz leise in sein pelziges Ohr.
Von der Hexe Befana handelt eine Geschichte.
Doch die ist nicht böse wie so manches Gelichte,
Das Kinder im Wald zu sich ins Knusperhaus lockt
Und dann über deren Ängste frohlockt.
Nein, die Hexe Befana fliegt von Haus zu Haus,
Und wie bei uns Christkind und Nikolaus
Bringt sie den Kindern in Italien Geschenke zum Fest.
Ob sie die wohl den Schornstein hinunterlässt?
So macht das in Amerika der Santa Claus.
Der wohnt am Nordpol in einem gemütlichen Haus.
Mit Elfen und Rentieren und seiner Frau,
Doch die Adresse weiß ich leider nicht so genau.
In Schweden bringt der Wichtel Jultomte die Gaben.
Dafür will er immer einen Teller mit Grütze haben.
Es muss aber ein Holzlöffel in der Schüssel stecken,
Weil sich Wichtel vor Sachen aus Metall erschrecken.
Draußen rüttelt der Wind an den Ästen und Zweigen,
Als wolle er dem Wald seine Stärke zeigen.
Er röhrt und blökt wie ein Stall voller Kühe,
Knickt junge Bäume und Sträucher ganz ohne Mühe.
Er jault ums Haus, er jammert und juchzt,
Gleichzeitig klingt es, als ob jemand schluchzt.
Der Schneemann vor’m Fenster guckt auch schon ganz bang.
Fürchtet er sich vor dem schaurigen Klang?
Am Mond zieh’n dunkle Wolkenfetzen vorüber,
Und die Sterne glüh’n, als hätten sie Fieber.
Ja, so ein Wintersturm kann ganz schön gruselig sein.
Da fühlt man sich plötzlich ganz winzig und klein.
Der Teddy zittert, ich drück’ ihn fest an mein Herz
Und erzähl’ ihm zur Ablenkung einen lustigen Scherz.
„Hab keine Angst“, sag ich dann in sein Gekicher.
„Der Wind ist draußen. Hier drin sind wir sicher.“
Auf seine haarige Schnauze drück’ ich einen Kuss,
Damit Teddy sich nicht mehr fürchten muss.
Er wirkt jetzt eigentlich auch schon wieder ganz heiter,
Und so blätter’ ich um und lese schnell weiter.
In Polen isst man an Heiligabend Gemüse und Fisch,
Und es steht ein überzähliger Teller auf jedem Tisch.
Der soll ein Zeichen der Gastfreundschaft sein,
Schaut zum Fest mal unerwartet Besuch herein.
In Lettland gibt’s zu Weihnachten Blutwurst mit Sauerkraut,
Und anschließend wird so richtig auf den Putz gehaut:
Die Wintersonnenwende feiert man hier,
Dazu verkleidet man sich wie ein wildes Tier.
Das tut man, um böse Geister zu vertreiben,
Denn die sollen nicht über Weihnachten bleiben.
Dann macht man ein großes Lagerfeuer
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