Rodolfo kündigte seinen Job in der Keksfabrik und zog in den Osten Montevideos. Von dort war es nicht weit zu seiner neuen Arbeit. Er war jetzt Portier in einem Gebäude gegenüber der schicken Anlage des Sportvereins Club Biguá de Villa Biarritz. Seine Söhne sahen ihn nur selten, brachen den Kontakt aber nicht völlig ab, wie Luis später einmal erzählte. Es waren harte Zeiten, da das uruguayische Recht damals noch keinen Unterhalt vorsah. Sandra, die erst einige Jahre später einen Bauarbeiter kennenlernen, erneut heiraten und mit ihm ein weiteres Kind bekommen sollte, musste gezwungenermaßen noch mehr schuften, um alle satt zu bekommen. In einem zweiten Job arbeitete sie nun zusätzlich in einem Krankenhaus als Putzfrau und Hilfskraft.
Trotz ihres Einsatzes reichte das Geld hinten und vorne nicht, wie Maxi sich erinnerte: „Wir wohnten in einem 15-Quadratmeter-Zimmer mit einer winzigen Küche. Monatelang gab es nur Reis und Würstchen, weil das eben billig war.“ Luis, Maxi und Diego, das Nesthäkchen der Familie, waren meist allein zu Hause. Um sie kümmerte sich bald María Josefa, die Großmutter mütterlicherseits. Sie zog nach Montevideo und fand einen Job in einem Laden, ebenfalls im Terminal Tres Cruces.
Wie bei allen Kindern in diesem Alter gab es auch unter den drei Brüdern gelegentlich Streit. Dennoch standen sie einander bei und unterstützten sich gegenseitig, wenn jemand in der Schule, auf der Straße oder beim Kicken Zoff mit einem von ihnen suchte. Luis, der Älteste, übernahm die Vaterrolle. Sie gingen gemeinsam zu Fuß oder fuhren mit dem Bus zum Training. Luis wartete dann auf die anderen und geleitete sie abends wieder nach Hause.
Luis Suárez musste also nicht nur auf, sondern auch neben dem Platz schnell erwachsen werden. Er war gerade einmal elf Jahre alt, als Nacional auf ihn aufmerksam wurde. Florean Neira erinnerte sich: „Wir trainierten öfter mal am Gran Parque Central. Irgendwann sah ihn ein Trainer der Bolsos und fragte mich: ‚Wer ist denn der Knirps da? Kannst du den vielleicht zu uns geben?‘ Und ich: ‚Natürlich. Wenn ihr ihn bei euch haben wollt, kein Problem.‘ Ich habe nie ein Kind aufgehalten, das den nächsten Karriereschritt machen konnte. Also habe ich ihn freigegeben.“
So jedenfalls hat es sich nach Erinnerung von Florean Neira zugetragen, aber wer weiß, ob es tatsächlich so war. Luis’ Vater wurde auch von Danubio, einem anderen Klub aus Montevideo, wegen eines möglichen Transfers des Jungen kontaktiert. Danubio soll sogar Geld geboten haben. Doch seit Luis acht Jahre alt war, träumte er davon, das Trikot von Nacional zu tragen. Er wollte darin uruguayischer Meister werden. 1998 rief ihn dann der Vater seines Mannschaftskameraden Martín Píriz an, als Luis gerade in den Ferien an der Küste war: Er solle zu einem Probetraining für Kinder bei Nacional kommen. Der Traum war Realität geworden.
KAPITEL 4
Mit ganz viel Herz
In der Jugend von Nacional
Luis war zwölf Jahre alt, als er zum ersten Mal in der Jugend von Nacional mittrainierte. Die Trainer waren sich keineswegs einig, was den jungen Suárez betraf. Einige meinten, er sei hölzern am Ball, ihm würde die technische Qualität fehlen, die er als Spieler eines Spitzenvereins bräuchte. Luchos Bruder Maxi dagegen wisse, was er tue. Maxi hatte ein feines Ballgefühl – so fein, dass die Trainer ihn deutlich früher als eigentlich vorgesehen in die nächsthöhere Altersstufe beförderten.
Doch es gab auch Leute, die an Luis glaubten, wie eben Wilson Píriz, ehemals Nachwuchschef von Nacional und später Spielerberater. Er sah den Torjäger hinter dem wenig eleganten Jungen. Píriz: „Er hatte die Fähigkeit, das Quäntchen Glück, den Instinkt und das Talent – nennen Sie es, wie Sie wollen –, die große Knipser haben müssen. Der Ball landete immer irgendwann an seinem Fuß, und irgendwie hat er ihn dann reingemacht. Sogar mit geschlossenen Augen.“
Lange Rede, kurzer Sinn: Mit 13 Jahren verpflichtete Nacional Luis Suárez. Aufgrund der Regularien war dies erst in diesem Alter möglich. Luis galt als guter Junge, bescheiden, schüchtern, ein wenig introvertiert, aber verantwortungsbewusst – und er zeigte Engagement, auf dem Platz und in der Schule. Er kam auch rasch mit der neuen Mannschaft und dem Großfeld klar. Durch seine Erfahrungen in der Kinderliga kannte Luis sich bereits mit dem Wettkampf aus.
Neu war bei Nacional, dass der Verein ihn sehr umsorgte und ihm gelegentlich ein paar Pesos zusteckte, damit er und seine Brüder Maxi und Diego mit dem Bus nach Hause fahren konnten. Oft bekam er auch in der Vereinskantine etwas zu essen, wo Judith bald eine Art zweite Mutter für ihn wurde. Seine Mannschaftskameraden ließen ihn ebenfalls aufblühen. Er schloss Freundschaft mit Víctor „El Manteca“ und auch mit dessen Bruder Martín, und sie wurden unzertrennlich. Unzählige Male übernachtete Luis bei ihnen, und als Víctors Vater Jahre später einmal in der Patsche saß, half Luis ihm erfolgreich bei der Jobsuche.
Trotz der schwierigen familiären Situation hatte Luis also einfach weitergemacht und war fußballerisch vorangekommen. Doch plötzlich lief es nicht mehr. Irgendetwas veränderte sich, irgendein Hebel im Gehirn stand plötzlich auf der Kippe, und Luis geriet aus der Bahn. Machte ihm die Trennung seiner Eltern zu schaffen? Setzte ihm die Pubertät Flausen in den Kopf? Waren es andere Interessen, wie Tanzen, Diskos, Mädchen oder das Nachtleben? Schlechte Gesellschaft, in der er soff, rauchte und die Nächte durchmachte?
Es war wohl ein bisschen von allem. Auf jeden Fall ging es abwärts, und sein Hauptinteresse galt nicht mehr dem Fußball. Luis spielte in Nacionals U14. Als Stammspieler gestartet, saß er mittlerweile auf der Bank. Seine Leistung stimmte nicht mehr, und am Ende der Saison hatte er lediglich acht Treffer markiert. Er trainierte lustlos und ernährte sich hauptsächlich von Pizza, Hot Dogs und Cola.
Auch Luchos Benehmen ließ zu wünschen übrig: Im Mannschaftsbus schrie er herum, zeigte unschöne Gesten und spritzte Wasser auf Passanten. Typische Eskapaden eines pubertierenden Jünglings, die den Verantwortlichen des Vereins jedoch sehr missfielen und ihn über kurz oder lang auf die Abschussliste brachten. Man solle ihn freigeben, damit er sich einen anderen Klub suche. Er habe weder die körperliche Statur noch den echten Willen, das Trikot der Tricolores zu tragen. Dieser Meinung waren jedenfalls viele im Verein.
Zu Luis’ Glück hielten Wilson Píriz sowie José Luis Espósito, der damals ebenfalls für den Nachwuchs zuständig war (und später als Busfahrer arbeitete), dagegen. Diese beiden Männer hatten seinerzeit Schlüsselpositionen bei Nacional inne. Selbst Luis gibt heute ehrlich zu, dass sie ihn davor bewahrten, in Ungnade zu fallen. Píriz selbst drückte sich hingegen sehr vorsichtig aus: „Ich gehörte zu den Leuten, die ihn wieder auf den rechten Weg brachten, als es für ihn bei Nacional nicht lief und er in der Mannschaft keine Rolle mehr spielte, ja. Aber ich war nur ein kleines Rädchen im Getriebe. Ich habe ihn verteidigt, und irgendjemand hat mir zugehört. Also durfte Luis beim Verein bleiben.“
Aber Píriz redete nicht nur mit den Verantwortlichen im Verein und überzeugte sie nach langen Diskussionen. Er sprach auch mit dem Spieler selbst, um ihm klarzumachen, was Sache war: „Ich habe ihm gesagt, dass sein Verhalten nicht den Erwartungen entsprach. Wenn er nicht wieder in Topform käme, müsse er gehen. Ich habe ihm erklärt, dass er seinen Lebensstil überdenken solle, in sportlicher und persönlicher Hinsicht. Dass er nun mal hart arbeiten müsse, um Fußballprofi zu werden. Er hat die Botschaft kapiert, seine zweite Chance genutzt, und heute ist er ein Weltklassespieler.“
Auf die Frage, was im damals 14-jährigen Suárez vorgegangen sei, meinte Píriz: „In dem Alter hat ihn die Familiensituation schon sehr beschäftigt. Außerdem war Luis ein Teenager wie jeder andere auch und hat gerne mit Freunden gefeiert, ist auf Geburtstage gegangen. Darauf wollte er nicht verzichten. Er ist ja schon immer zum Training erschienen, aber bei den Spielen hat er dann halt zu wenig Schlaf gehabt, um voll durchzuziehen. Sein Lebensstil war kontraproduktiv. Aber Luis war clever genug, das einzusehen. Er hat auf seinen Bruder Paolo, auf seine Mutter und auf Sofía gehört – seine damalige Freundin und heute seine Frau – und ist aus dem Loch herausgeklettert.“
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