Ide war dreizehn, als Christian II. mit seiner Königin und seinen drei Kindern aus Land und Reich floh. Die Mutter war gerade damit beschäftigt, Tüten mit getrocknetem Lavendel gegen die Motten herzurichten, als die Botschaft kam. Ihre Hände fielen schwer in den Schoß, und sie lächelte. Es war das erste Mal, daß Ide das Lächeln ihrer Mutter sah. Es war das erste Mal, daß sie ihre Zähne sah. Sie waren breit und weiß. Es fehlte einer im Oberkiefer und einer im Unterkiefer, aber das war nicht viel nach neun Geburten.
Seitdem verband Ide immer die Flucht des Königs mit dem Geruch nach getrocknetem Lavendel und dem Anblick der Zähne ihrer Mutter, die sie nie wieder sah. Auch nicht, als sich Kopenhagen endlich König Frederik ergab. Sie lächelte auch nicht, als Christian II. zurückkehrte und als Gefangener nach Sønderborg gebracht wurde.
Beim Tode König Frederiks sagte sie, alle Sehnen ihres Halses gespannt:
»Er lebt immer noch, und seine Töchter sind am Leben, und die sind gefährlich.«
Politik war etwas für Männer. Nicht für Frauen, nicht einmal fürstliche. Doch wenn der Führerwolf stirbt, beginnt der Kampf im Rudel, und wenn es keinen König gibt, tauchen leicht sehr viele Könige auf. Ide schüttelte sich und legte Olufs Brief halb gelesen beiseite und schickte statt dessen nach der Person, die ganz genau wußte, wer der Vater von wem war und was im Dorf Valløby der Wahrheit entsprach und was nicht.
Auch wenn sie den Keller von allem Gebräu und allem Wein leerte, würde es nicht möglich sein, Pater Niels eine einzige Beichte zu entlocken. Aber es gab andere Wege, etwas in Erfahrung zu bringen. Wenn der Geistliche zum Gutshof gebeten wurde, kam er stets mit schlingernden Wagenrädern und fliegender Kutte, froh, seiner aufmüpfigen Gemeinde, der mürrischen Haushälterin, dem dünnen Bier und den trockenen Schinken zu entkommen, und er hatte gewiß jedes Wort, das gesagt wurde, gehört.
Ide wartete am offenen Fenster, um genau die Haltung des Mannes zu sehen, wenn der Karren über das Pflaster rollte. Aber das dauerte offenbar seine Zeit. Hinter den langen Streifen der Felder wurde der Horizont dunkel und die ganze Landschaft nach unten gedrückt. Das Licht über der mageren Saat verlöschte abrupt, als würde sich der Himmel der Erde bemächtigen, und ein Rauschen fuhr durch die gewaltigen Baumkronen, wie eine Meldung von Baum zu Baum, daß es nun geschehen würde.
Der erste Donnerschlag erklang draußen im Westen, als der Pfarrer endlich in Sicht kam. Er rumpelte zum Scheunentor. Er schirrte ab. Er hatte offenbar keine Eile, unter Dach zu kommen. Bei der Zugbrücke schlurfte er dahin, als müsse er einen Pflug durch ausgedörrte Erde ziehen. Ide beugte sich noch weiter vor.
Der Pfarrer blieb direkt unter ihr drei Schritte von der Tür stehen, so daß sie den tonsurierten Scheitel sehen konnte, und als er mit zitternder Hand das Zeichen des Kreuzes schlug, wußte sie ausreichend Bescheid über die vielen Beichten des frommen Oluf.
Ide schlug heftig das Fenster zu, gab Anweisung, von einem Faß mit Klarett zu zapfen, und bereitete sich auf einen freundlichen Empfang vor.
Ide erwachte beim ersten Morgengrauen. Draußen sangen die Vögel mit einer Kraft, als seien allein ihre Stimmen imstande, die Sonne über den Horizont zu ziehen. Sie hatte von dem Knaben geträumt, der hinter dem braunen Huhn herrannte. Er hatte Grübchen im Kinn und Wirbel im Haar, und in einer Ecke stand Katrine und lachte, während sie selbst eine Bilanz nach der anderen durchging und aufschloß und zuschloß. Schüsseln mit Ablaßbriefen und Wannen voller guter Taten hatten sich angehäuft, höher und höher, zusammen mit ihrer Mitgift an Leinen, Silberbechern und Besitzdokumenten von reichen Ländereien auf Tommerupsholm.
Sie erhob sich im Bett. Oluf war nicht mit im Traum. Aber er gehörte in die Wirklichkeit. Er mußte einfach hineingehören. Die Ehe war ein Sakrament. Das war heilig. Es war unverbrüchlich und von Gott im Himmel eingesetzt, der in diesem Augenblick den Keim zu einer Liebe legte, die von Tag zu Tag wachsen und zum schönsten Baum des Gartens werden sollte. Das hatte ihr Beichtvater gesagt. Und die Eltern. Aber sie hatte diesen Baum der Liebe nie gesehen. Auch nicht bei ihnen.
Fünf Jahre nacheinander gebar die Mutter zur Säzeit einen Knaben und ging hinter seiner Leiche zum Grab, ehe die Sicheln im September die Ähren des Strohs schnitten. Ides Kindheit war eine Angst vor allem Fremden gewesen. Gebete mit den Knien auf kaltem Boden. Schweigend eingenommene Mahlzeiten. Und dann das Familienporträt mit den zwei lebenden Brüdern, der Schwester und ihr selbst im ersten Schnürleibchen und die fünf mondbleichen Säuglinge auf einem finsteren Himmel schwebend, jeder einzeln gemalt, ehe der Sargdeckel zuschlug.
Die Eltern feierten nie ein Fest. Das Lachen des Vaters wurde nur in Abwesenheit der Mutter freigelassen. Doch Ide hatte selbst auch nie ein Fest gefeiert. Sie hatte sich vor dem Lärm und den groben Geräuschen gefürchtet, vor dem Ungezähmten, dem Berauschten, davor, sich selbst zu verlieren. Und was würde Oluf zu soviel Ausgelassenheit sagen.
Ide stand auf, zog sich rasch ein Hemd über den Kopf und öffnete das Fenster. Es lag ein Lichtgeflimmer über dem Wallgraben, und die Wasserpfützen glitzerten. Noch hatte die Erde nicht ihre Farben. Sowohl das Gras als auch die Bäume waren grau. Aber Gott hatte es regnen lassen. Gott hatte die Ernte gerettet. Gott hatte ihr Freude geschenkt. Sie atmete sie ein, und vielleicht war Mette auch als Freude gekommen. Vielleicht war Oluf deshalb so angetan von ihr. Und von Katrine, die immer lachte.
Die Frau, die die Nachttöpfe holte, kam herein. Sie schleifte die Füße hinterher, ging zur einen Tür hinein und zur anderen hinaus. Ide sah an sich hinunter. Die Hände waren direkt unter der Brust fest gefaltet, als preßten sie etwas, das schmerzte. Sie erschrak bei diesem Anblick, zwang die Finger auseinander und schaute auf. Draußen kamen allmählich die Farben zum Vorschein, Schatten und Gebäude bekamen Linien und Umrisse. Ihr wurde plötzlich klar, daß sie eigentlich nie gedacht hatte. Sie hatte nur gelernt. Gebete, Bibelworte und Sternendeutung für den Hausgebrauch. Lesen, Rechnen und Sticken und sämtliche Ahnen von der Seite des Vaters und der Mutter her aufzählen. Alle die Toten. Sie hatte nie ihre Hände und Füße benutzt. Sie bewegte sich wie eine Maschine. In der Nacht, in der Mette geboren wurde, hatte sie zum ersten Mal über mehr nachgedacht als über die Ursachen des widerspenstigen Wetters.
Sie mußte etwas unternehmen. Sie konnte nicht einfach in der morgendlichen Kühle dastehen und nichts tun. Sie hatte geschworen, daß sie lieben wollte und klug sein und treu sein. Das erforderte Großmut und Vergebung. Sie war dreiundzwanzig Jahre alt, hatte zwei Geburten überlebt und hatte vielleicht noch viele Jahre vor sich.
Es sollte ein Fest gefeiert werden. Das kam wie eine plötzliche Eingebung. Ide kroch unter die Decke und merkte erst jetzt, wie kalt ihre Beine geworden waren, und sie rieb sie warm.
Alle sechzehn Kerzen auf dem Kronleuchter sollten angezündet werden, und der Glanz würde die Erinnerung an fünf tote Kinder und einen Knaben mit braunem Huhn aus ihrem Gedächtnis verscheuchen. Die Silberbecher sollten aus dem Silberschrank geholt werden und aus dem Pretiosenschrank die kostbaren Bankettdecken und das silberbestickte Gedecktuch mit den Wappen der Munks und der Rosenkrantz’ aus Goldfäden. Die Zinnkannen sollten mit echtem spanischen Alicantewein gefüllt werden, schwer und süß, mit etwas Glück in der Stadt Køge zu kriegen.
Über die Zugbrücke rumpelten die ersten Karren und übertönten den morgendlichen Gesang der Vögel, während sich in Ides Kopf das Menü zusammenstellte. Suppe aus Zuckererbsen gekocht, Lamm mit Soße aus Senf, Honig und Zwiebeln gerührt, dazu ein Glas Rheinwein, vermengt mit Waldsauerklee und Portulak für den saueren Geschmack. Danach eine frisch gesalzene Speckseite mit Meerrettich und Liebstöckel. Die Tauben brauchten den mit Anis und Zimt angesetzten Senf. Pfefferminze und Brunnenkresse zur Wildpastete und Waldbeeren und Mandeln für die Kuchen. Südländische Früchte sollten bei den Händlern am Hafen gekauft werden und schließlich die gesäuerten Käse.
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