Ide hielt das eine Kind auf dem Arm und das andere an der Hand, als Oluf bei Tagesanbruch Abschied nahm. Ein kühler Morgenwind von Osten brachte den Geruch nach Tang auf den Hofplatz, wo Leder knirschte und Metall klapperte, als die Ritter und Burschen nacheinander zwischen flatternden Hühnern, schnatternden Gänsen und verwirrtem Gesinde aufsaßen.
Fast wie bei einem Ritual fragte Oluf sie, ob man sich in Kopenhagen treffe. Sie sagte ihr Nein. Obwohl das keine Reaktion hervorrief oder nur Verwunderung, enthielt das Wort Stärke. Es war gleichsam die Festigkeit einer senkrechten Lanze im Rücken.
Oluf wandte sich ein letztes Mal im Sattel um. Er schaute Mette an, und über seine Wange lief die Träne, die er nicht einmal über die Leiden der Allerseligsten Jungfrau vergossen hatte, die den entseelten Leib ihres Sohnes in den Armen hielt.
Die Sonne stieg auf, doch nach der langen Trockenheit brachte die Erde keine Frucht hervor. Die Bäume warfen Schatten über das mit Pech bestrichene Fachwerk der Scheune und des Stalles. Das Licht streifte die gelben Punkte der Ringelblumen entlang der Mauer, und die vielen Pferdehufe wirbelten Staub auf, der in die Augen und den Rachen drang.
Ide hustete einen Augenblick. Sie hielt sich mit dem um Mette geschlungenen Arm den Mund zu und murmelte bei sich:
»Gebe Gott, daß Oluf an die Puppe für Birgitte denkt.«
Und als sich die Staubwolke über den Hügeln erhoben, nahm der nächste Gedanke in ihrem Kopf Gestalt an:
»Möge Gott verhüten, daß dieser Ketzer Herzog Christian zum König von Dänemark gewählt wird.«
Als die Ritter außer Sichtweite waren, drehte sich Ide um, überließ Birgitte der Amme und begab sich in die Schlafkammer. Sie schob den Riegel vor, drehte den Schlüssel um und stellte den Tisch so, daß ein Streifen der Sonne vom offenen Fenster darauffiel. Gewohnheitsgemäß wanderte Ides Blick über den Horizont auf der Suche nach dem Schleier, aus dem Wolken entstehen konnten, die möglicherweise Regen brachten.
Der Himmel war strahlend blau, und Ide legte die schlafende Mette auf ein Kissen auf den Tisch und machte die ganze Windel ab. Häubchen, Tücher und Nabelbinde wurden entfernt und ebenso das trockene Moos zum Aufsaugen der Flüssigkeit. Sie beugte sich über das nackte Kind, betrachtete eingehend seine Stirn und tastete mit den Fingern nach dem geringsten Hinweis, daß da etwas herauswuchs. Sie untersuchte sorgfältig jeden einzelnen der kleinen Nägel an Händen und Füßen, um festzutellen, ob sie die Form von Klauen annahmen.
Ide drehte Mette auf den Bauch, verscheuchte die Fliegen und drückte ganz unten auf das Rückgrat, wo ein Schwanz seinen Anfang nehmen müßte. Es war weder etwas zu sehen noch zu spüren. Noch nicht. Doch der Teufel war gerissen. Vielleicht wartete er mit der Offenbarung der Beweise seiner Vaterschaft, bis ihr Muttergefühl so stark war, daß sie das Entsetzliche aushalten konnte.
Mette sollte versorgt und gepflegt werden wie Birgitte. Sie sollte weder hungern noch frieren, noch standesmäßige Kleidung entbehren oder von Büchern ferngehalten werden, wenn die Zeit kam und falls sie so lange lebte. Doch Ide wollte auf das kleinste Zeichen einer Teufelei an Mettes Körper und in ihren Handlungen achten. Sollte sich eine Neigung zeigen, auf Ziegen zu reiten, oder sollte sie nur ein einziges Mal das Kruzifix in der Kinderkammer auf den Kopf stellen, wollte Ide ohne lange zu zögern an den Bischof schreiben und ihm die grauenhafte Wahrheit mit allem, was sie beinhaltete, berichten.
Das Kind war so schön geschaffen und schlief so friedlich. Aber Ide ließ sich nicht täuschen, denn woher rührte bei einem so schwermütigen Mann wie Oluf dieser Sinneswandel?
Gehörte Mette der Hölle an, mußte sie hinunterfahren. Und das ohne Begleitung ihrer irdischen Mutter, Ide Munk.
Der große eiserne Kronleuchter der Sommerstube wurde heruntergelassen. Ide überwachte, wie zwei Gesellen das Seil vom Mauerhaken lösten. Langsam senkten sie ihn herunter zu den Mägden, die mit steifen Hauben auf dem Kopf bereitstanden, die Spinnweben zu entfernen und den Talg aus den Schalen zu kratzen, um daraus neue Kerzen zu ziehen.
Unten auf dem Boden glich der Kronleuchter eher einem halbverrosteten Monstrum, aber es war jetzt nicht der richtige Zeitpunkt, an kostbare Bronze zu denken. Die Nachbarn hatten jahrelang eine Menge Vieh verkauft, um roten Stoff für die Wände, flämische Spitzen für die Kleider und eine goldene Beleuchtung für die Decke zu kaufen. Doch Vallø war befestigt. Das hatte viel gekostet. Und eine Mark war eine Mark und ein Schilling ein Schilling und konnte nur einmal ausgegeben werden.
Ide gab trotzdem den Gedanken an diese schimmernden Leuchter nicht ganz auf. Der Glanz würde die Wirkung der Flammen an langen Winterabenden verstärken, an denen sie verschwenderisch sein und alle sechs oder sieben Talglichter auf einmal anzünden wollte. Mit so einem Leuchter würde man meinen, die Sonne in der Stube zu haben, und vielleicht konnte sie sogar nach Einbruch der Dunkelheit lesen und nähen.
Die Luft war drückend, und Ide ging zum Fenster, öffnete es und hielt Ausschau nach der Amme und den Kindern unter den abgeblühten Obstbäumen. Sie sah Birgitte nach einem Zweig greifen. Die Amme saß an einen Baumstamm gelehnt, Mette in einem geflochtenen Korb neben sich. Die Schatten waren scharf. Die Erde war grau. Das Gras hatte einzelne gelbe Flecken. Und plötzlich dieses Summen. Ganz leise. Aber deutlicher werdend. Kräftig und laut.
Ide stützte sich mit den Händen an den Fensterrahmen und spürte die Wärme am Körper. Sie blieb stehen. Sie wollte den vergessenen Text zu dieser einfachen Melodie haben, beugte sich vor und tat, als blicke sie hinauf zum Himmel. Sie sollten Zeit haben und Mut. Die Worte kamen. Zuerst zögernd. Dann taktfest: »Und bis wir den Schatz verteilen, darf kein Mann dem Ting enteilen. Und in Sønder Herred stehen die Bauern zusammen im Ring.«
Ein Reiher flog über den Hof. Der Eisvogel stieß wie ein blauer Blitz hinunter auf den dichten Teppich der Ampferblätter, während die Singstimme wuchs und sich entfaltete wie ein plötzlich aus dem Boden sprießender Pilz:
»In Sønder Herred stehen die Bauern zusammen im Ring, Herr Tidmann darf nicht lebendig verlassen das Ting. Der erste Schlag den Alten traf.«
Ide wurde jetzt von ihrer alten Kindheitsangst gepackt. Ihr Vater, ihre Mutter in einer Blutlache. Sie erinnerte sich an das ganze Lied. An jedes Wort:
»Der erste Schlag den Alten traf. Herr Tidmann zu Boden warf. Er liegt in seinem Blute.«
Nur eine hatte es gewagt, die letzte Strophe zu singen. Laut und gellend, und Ide fuhr herum.
Die Mägde standen im Kreis. Jede hatte etwas in der Hand. Einen Besen. Einen Eimer. Eine Schale. Eine Bürste. Ein Messer. Sie sah die Augen unter dem Kreis der Hauben um den Eisenleuchter.
Ide steuerte direkt auf Schuhmachers Karen zu mit dem hellblonden Haar, den leuchtenden blauen Augen und dem ewig besserwissenden Lächeln. Ide schlug ihr mit einer Kraft mitten ins Gesicht, als könnte sie eine zwanzigjährige Angst aus ihrem Bewußtsein prügeln.
Dann kontrollierte sie die Talgschalen, befahl, den Leuchter wieder hochzuziehen, und stieg langsam die Treppe hinauf.
Bei der Turmtür blieb sie stehen und lehnte sich an den Rahmen. Es war nicht nur die Wärme. Selbst nach dem harten Schlag hatte Karen ihr sicheres Lächeln und ihre stolze Haltung nicht verloren. Sie lachte beinahe; es war, als hätte diese Dienstmagd ein eigenes inneres Wissen von den Zeiten, die kommen würden.
Keine noch so kräftige Ohrfeige vermochte die Erinnerung an den Aufruhr in Tofte Marked aus Ides Bewußtsein zu tilgen. Das war kein Traum gewesen und Ide kein Kind mehr, als die Bauern nur einige Zoll vor den Füßen ihrer Mutter eine Lanze in die Erde rammten und damit drohten, sie auf zwanzig andere Lanzen gespießt durch die Straßen und Gassen zu tragen. Und das, weil der Vater sein gesetzliches Recht auf Zollabgaben sowie die Buß- und Strafgelder der Stadt Viborg geltend gemacht hatte, und wäre der Ketzer Mogens Gøye nicht gewesen, der mit seiner besonderen Art die Bauern zur Ruhe gemahnt hatte, würden sie jetzt alle einen Klafter unter der Erde liegen.
Читать дальше