Bald verkehrte auch der junge José Raoul in Havannas noblem Schachklub. Frühe Bilder zeigen ihn bereits damals als einen äußerst gepflegt gekleideten Jungen in der für ihn typischen eleganten Denkerpose. Schon mit zwölf schlug er Juan Corzo, den stärksten kubanischen Spieler. Capablanca war erst 16, als er in die USA zog, um bald darauf an der Columbia University in New York City Chemietechnik zu studieren. Doch ähnlich wie der junge Steinitz strebte Capablanca lieber eine Karriere als Schachprofi an. Er machte schnell Fortschritte, verkehrte im ehrwürdigen Manhattan Chess Club und gewann souverän einige kleinere Turniere. Im Jahr 1909 kam es zu einem Duell mit dem amerikanischen Landesmeister Frank Marshall, der immerhin noch zwei Jahre zuvor gegen Lasker um die Weltmeisterschaft gespielt hatte. Entsprechendes Erstaunen rief das Ergebnis hervor: Capablanca fertigte Marshall mit 8:1 Siegen ab (bei 14 Remisen).
Danach setzte sich der Siegeszug des jungen Kubaners auf europäischer Bühne fort. Obwohl für das Turnier in San Sebastián 1911 nur Spieler zugelassen waren, die mindestens einen dritten Platz bei vergangenen Topturnieren vorweisen konnten, durfte Capablanca dank seines Sieges über Marshall teilnehmen. Zum Missfallen einiger Meister. „Einer von ihnen war Dr. Bernstein. Ich hatte das Glück, gegen ihn in der ersten Runde zu spielen“, schrieb Capablanca in My Chess Career . Er schlug Bernstein, erhielt für die Partie obendrein einen Schönheitspreis und sollte am Ende auch das Turnier gewinnen, vor dem Favoriten Akiba Rubinstein und Milan Vidmar.
Endloses Warten auf den Titelkampf
Es war bezeichnend für sein Selbstbewusstsein, dass er sich nach seinem ersten großen Turniererfolg stark genug fühlte, Weltmeister Emanuel Lasker herauszufordern. Dieser signalisierte Bereitschaft, stellte jedoch 17 Bedingungen: Unter anderem sollte der Herausforderer 10.000 US-Dollar auftreiben, was Capablanca, der sich auf seine Gönner in Havanna verlassen konnte, noch akzeptabel fand. Der Wettkampf sollte ferner auf 30 Partien angesetzt werden und Lasker im Fall eines Unentschiedens seinen Titel behalten. Auch das wäre für Capablanca in Ordnung gewesen. Doch eine Forderung lehnte er kategorisch ab, dass nämlich der Wettkampf auch dann unentschieden gewertet werden sollte, wenn einer von beiden nach 30 Partien mit einem Punkt Vorsprung führte. Anders ausgedrückt: Capablanca hätte zwei Punkte Vorsprung benötigt, um Weltmeister zu werden. Es entwickelte sich zwischen den beiden ein teilweise scharfer Briefwechsel, in dessen Verlauf Lasker Capablanca aufforderte, sich für die Worte „offensichtlich unfair“ zu entschuldigen.
Sie einigten sich nicht. (Derweil drängte sich Rubinstein, der im Jahr 1912 eine Serie von Turniererfolgen erzielt hatte, als Herausforderer auf.) Beim Turnier in St. Petersburg 1914 trafen Lasker und Capablanca aufeinander: Der Kubaner, in Führung liegend, unterlag dem Weltmeister und wurde von diesem schließlich auf den zweiten Platz verwiesen. Im Anschluss versöhnten sie sich miteinander. Bald darauf brach der Erste Weltkrieg aus, an einen WM-Kampf war vorerst nicht zu denken.
Capablanca kehrte nach Amerika zurück. Im Jahr 1913 hatte er vom kubanischen Außenministerium pro forma den Status eines Diplomaten erhalten, was ihm eine großzügige finanzielle Absicherung verschaffte. Er konnte sich in Ruhe aufs Schachspielen konzentrieren.
Historischer Sieg unter der Sonne Havannas
Nach neuerlich langwierigen Verhandlungen kam es am 15. März 1921 in Havanna endlich zum Duell zwischen Lasker und Capablanca. Wie bereits im Lasker-Porträt erwähnt, gab dieser den Kampf nach 14 von 24 Partien vorzeitig auf. Es war gewiss nicht die Hitze allein, die dem 52-jährigen Deutschen zu schaffen machte. Lasker schien seinen Zenit überschritten und in Capablanca seinen Meister gefunden zu haben. Er blieb sieg- und nahezu chancenlos.
Nach vier Remisen zum Auftakt gewann Capablanca nach einem schweren Fehler Laskers die fünfte Partie. Es folgten wiederum vier Remisen, bis Capablanca mit zwei Siegen eine Vorentscheidung gelang. Die elfte Partie taugt als anschauliche Stilstudie: Capablanca eröffnete mit dem Damengambit und erhielt einen Raumvorteil, den er mit einfachen Zügen festhielt (siehe Notation). Nachdem sich Lasker mit 24…f6 aus der Umklammerung befreien wollte, entstanden Angriffspunkte im schwarzen Lager (Bauernschwächen, luftige Königsstellung), die Capablanca erbarmungslos ausnutzte. Mit einer seiner geliebten „petites combinaisons“ landete er seinen dritten Sieg:
Capablanca – Lasker
11. WM-Partie, Havanna 1921
Damengambit
1.d4 d5 2.Sf3 e6 3.c4 Sf6 4.Lg5 Sbd7 5.e3 Le7 6.Sc3 0-0 7.Tc1 Te8 8.Dc2 c6 9.Ld3 dxc4 10.Lxc4 Sd5 11.Lxe7 Txe7 12.0-0 Sf8 13.Tfd1 Ld7 14.e4 Sb6 15.Lf1 Tc8 16.b4 Le8 17.Db3 Tec7 18.a4 Sg6 19.a5 Sd7 20.e5 b6 21.Se4 Tb8 22.Dc3 Sf4 23.Sd6 Sd5 24.Da3 f6 25.Sxe8 Dxe8 26.exf6 gxf6 27.b5 Tbc8 28.bxc6 Txc6 29.Txc6 Txc6 30.axb6 axb6 31.Te1 Dc8 32.Sd2 Sf8 33.Se4 Dd8 34.h4 Tc7 35.Db3 Tg7 36.g3 Ta7 37.Lc4 Ta5 38.Sc3 Sxc3 39.Dxc3 Kf7 40.De3 Dd6 41.De4 Ta4 42.Db7+ Kg6 43.Dc8 Db4 44.Tc1 De7 45.Ld3+ Kh6 46.Tc7 Ta1+ 47.Kg2 Dd6
48.Dxf8+!Mit der offensichtlichen Idee 48…Dxf8 49.Txh7 matt. 1:0.
Als Lasker, gesundheitlich angeschlagen, in der 14. Partie auf unbegreifliche Weise zweizügig eine Qualität einstellte, gab er den Wettkampf auf Anraten seines Arztes auf.
Capablanca galt nun als der stärkste Spieler der Welt, und er bestätigte dies auch mit einem Turniersieg in London 1922. Bei dieser Gelegenheit setzten sich die führenden Spieler zusammen, um die Bedingungen für künftige WM-Kämpfe zu fixieren. Capablanca bestand darauf, dass ein potenzieller Herausforderer das Mindestpreisgeld von 10.000 Dollar plus Spesen aufbringen müsse. Eine Hürde, an der unter anderem Rubinstein und Nimzowitsch in den folgenden Jahren scheitern sollten.
Tausend Turmendspiele
Von jeher kursieren allerhand Legenden über Capablanca, die er mitunter selbst pflegte. Beispielsweise habe er, so heißt es, fast bis zu seinem 30. Lebensjahr nie in ein Eröffnungsbuch geschaut. Weltmeister ohne Arbeit? Mit der Wirklichkeit hat diese Darstellung wohl ebenso wenig zu tun wie das Damengambit mit Damenstrümpfen. Gewiss, Capablanca war kein so großer Kämpfer und Arbeiter wie die kongenialen Lasker und Aljechin. Capablancas Spiel zeichnete sich vielmehr durch eine unbegreifliche Leichtigkeit aus. Wer seine Partien nachspielt, wird Pläne finden, die so rein wie klares Wasser erscheinen. Für viele seiner Gegner waren sie dennoch undurchschaubar.
Capablanca empfahl, ein jeder solle unabhängig von der Spielstärke in allen drei Partiephasen – also Eröffnung, Mittelspiel und Endspiel – die gleiche Effizienz anstreben. Er selbst erreichte dieses Ziel auf höchstem Niveau, und in Sachen Strategie war er allen Zeitgenossen klar überlegen. In seinen Eröffnungen wählte Capablanca bevorzugt einfache Stellungstypen. Besonders die Art und Weise, mit der er Mittelspiele und Endspiele zu behandeln pflegte, rief Bewunderung hervor, selbst bei seinen Konkurrenten: Sowohl Lasker als auch Aljechin glaubten, nie ein größeres Schachgenie als Capablanca kennengelernt zu haben.
Trotz aller Leichtigkeit – auch Capablanca musste für seinen Erfolg etwas tun. In jungen Jahren soll er allein über tausend Turmendspiele analysiert haben. Wie dem auch sei, das folgende Turmendspiel ging wegen seiner brillanten Spielführung in die Geschichte ein:
Capablanca – Tartakower
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