Alice lachte. Eine Pause entstand.
»Wie wird denn die neue Ernte, Vater?«
Ich wusste, was ihn besonders interessierte.
Zum ersten Mal, seit wir hier waren, sah er mich an.
»Also, wenn kein Hagel kommt, gut. Dann brauchen wir jede Hand zur Lese; auch deine wäre mal durchaus willkommen, Alice.«
»Ja, warum eigentlich nicht? Man soll ja bekanntlich niemals nie sagen. Gib mir einfach Bescheid, wenn’s so weit ist.«
Wir schwiegen eine Weile. Mein Vater ließ den Blick über das Tal schweifen. Dann schaute er seine Schwester an.
»Und, geht’s dir gut? Hast du noch den von der Weinstube?«
»Du meinst Fritz? Ja, wenigstens ab und zu.« Sie grinste.
»Wieder nichts Ernstes, oder?«
»Nö, nicht so, wie du das verstehen würdest, Bruderherz. Aber er bringt mich zum Lachen, das ist doch schon mal was.«
»Zum Lachen?«, wiederholte mein Vater und schüttelte verständnislos den Kopf.
»Die Weinstube läuft gut. Sie suchen übrigens händeringend Bedienungen, freundliche, verlässliche. Das wär doch etwas für Bärbel. Natürlich nur den Winter über.« Tante Alice sah mich an.
Ich fühlte mich überrumpelt. Das mit der Weinstube war nicht abgesprochen, und ich konnte erst einmal gar nichts sagen.
Mein Vater tat es für mich. »Also, wir brauchen Bärbel hier. Setz ihr keine Flausen in den Kopf!«
»Sie könnte bei mir wohnen. Kostenlos. Was denkst du, was eine tüchtige Bedienung so an Trinkgeldern nach Hause bringt!« Sie ließ das Gesagte sacken.
Inzwischen hatte ich mich gefangen. »Vater, doch nur von Oktober bis März. Im Frühjahr, wenn die Arbeit auf dem Hof wieder losgeht, komme ich wieder heim und helfe euch.«
»Außerdem würde Bärbel mal gern was Anderes sehen als nur das Leben auf dem Dorf. Gönn es ihr doch mal für diese kurze Zeit, Erich!«
»Wer von euch beiden hat sich denn das alles ausgedacht? Du, Alice, oder sie?«
Alice grinste wieder und deutete mit der einen Hand auf sich, mit der anderen auf mich.
»Vater, bitte! Das ist doch eine einmalige Gelegenheit. Ich könnte was sparen.« Ich überlegte kurz, was ihm wohl wichtig sei. »Für die Aussteuer!«
Mein Vater schnaufte laut und kratzte sich hinter dem Ohr. »Also, ihr wollt mich wohl vor vollendete Tatsachen stellen?«
»Nö, ist nur ein Vorschlag.« Alice grinste in sich hinein. »Und zwar ein sehr guter!«
Gedankenverloren kramte sie nach einer Zigarette, ließ es dann aber doch lieber sein. Offensichtlich wollte sie ihren Bruder nicht unbedingt verärgern.
»Würzburg ist mir ein zu unsicheres Pflaster für so ein unerfahrenes junges Mädchen wie Bärbel. Die ganzen Studenten – und erst die Amis!«
»Ich bin achtzehn, Vater. Hab ich dir nicht immer bewiesen, dass ich gut auf mich selbst aufpassen kann?«
»Außerdem wohnt sie schließlich bei mir, ihrer Tante. Da kannst du ganz beruhigt sein, Erich.«
Vaters Blick suchte Trost in der ihm vertrauten Landschaft, dann brummte er etwas in seinen Bart hinein von wegen Bock und Gärtner.
Seine Schwester ging nicht darauf ein. Wieder sprach eine Zeitlang niemand.
Dann stand mein Vater ruckartig auf und sah Alice an. »Also, ich muss wieder an die Arbeit. Und wegen der Sache mit Würzburg, seid euch da nicht zu sicher. Da muss ich erst mit Marga reden.«
Meine Tante zwinkerte mir zu.
Mir wurde heiß vor freudiger Erregung. Wir kannten beide Mutter und wussten: Die Schlacht war geschlagen.
Tatsächlich täuschten wir uns nicht. Sie brachte für meinen Wunsch mehr Verständnis auf als Vater und hatte auch sofort größeres Vertrauen in mich und weit weniger Bedenken ihrer Schwägerin Alice gegenüber. So wurde noch am Abend mit meiner Tante vereinbart, dass ich von Anfang Oktober 1966 bis Ostern 1967 bei ihr wohnen und unter ihrer Aufsicht stehen würde. Ich könnte ja ab und zu an den Wochenenden und natürlich zu Weihnachten mit dem Zug nach Hause kommen. Der Bahnhof mit einer direkten Verbindung nach Würzburg war nur eine Viertelstunde mit dem Auto von unserem Dorf entfernt, die Bahnfahrt selbst dauerte eine gute halbe Stunde.
Außerdem sagte Tante Alice mir einen Job als Bedienung in einem renommierten, seriösen Weinhaus in Würzburg zu, in dem auch ihr Freund Fritz Kellner sei, sodass ich zu keiner Zeit allein und ohne den Schutz eines Erwachsenen arbeiten müsste, was meiner Mutter sehr wichtig war.
Schließlich konnte auch Vater kein Argument gegen meinen Aufenthalt in Würzburg mehr vorbringen, und das Ganze war beschlossene Sache.
Freudig winkte ich Alice nach, als sie gegen Abend mit ihrem Auto wieder Richtung Würzburg losfuhr.
Später jedoch wälzte ich mich in meinem Bett hin und her und fragte mich, ob ich mich von meiner Tante nicht vielleicht doch hatte überrumpeln lassen.
Hatte ich wirklich Lust, monatelang als Bedienung zu arbeiten? Was, wenn ich mich zu dumm anstellte, mich gar als Dorftrampel blamierte? Ich kannte doch niemanden dort, nicht einmal den besagten Fritz. Und Tante Alice? Ich mochte sie, aber wie gut kannte ich sie wirklich?
In ihrer hübschen Drei-Zimmer-Wohnung war ich schon öfter gewesen. Mir hatte es dort immer gefallen. Anders als bei uns zu Hause waren die Zimmer modern und farbenfroh eingerichtet. Aber wie wäre es, wenn ich dauernd bei ihr wohnen würde?
Bei all diesen schweren Gedanken schlug mein Herz schneller, und ich hatte Mühe, nach dem aufregenden Tag einzuschlafen.
In den nächsten Wochen jedoch traten die Bedenken, die ich natürlich niemandem gegenüber äußerte, immer mehr in den Hintergrund, und in mir machte sich eine freudige Erregung breit, wenn ich an das Abenteuer Würzburg dachte, das mit jedem Tag näherrückte.
Meine Eltern brachten mich im Oktober 1966, am Sonntag, bevor ich meinen Job antreten sollte, in unserem VW Käfer nach Würzburg. Es war nur eine knappe Stunde Fahrt mit dem Auto.
Tante Alice hatte sich für unseren Empfang tüchtig ins Zeug gelegt. Sie hatte einen Kuchen gebacken und einen echten Bohnenkaffee aufgebrüht. Sogar eine Schale mit Schlagsahne stand auf der sorgfältig gedeckten Kaffeetafel.
Mutter und ich machten ihr Komplimente, und selbst Vater rang sich zu einer löblichen Erwähnung der Mühen seiner Schwester durch.
Wir ließen es uns schmecken und plauderten in einer angenehmen Atmosphäre.
Später trug Vater meinen Koffer in das kleinste Zimmer der Wohnung, ein Raum vom Zuschnitt einer Schuhschachtel, doch hell mit einem bequem aussehenden, frisch bezogenen Bett, einem kleinen Nachttisch mit Lämpchen, einem schmalen Schrank und sogar einem Waschbecken. So brauchte ich nur für Dusche und Toilette das Bad der Tante mitzubenutzen. Man konnte dank eines Elektroboilers jederzeit duschen; bei uns zu Hause musste der Badeofen erst mit Reisig und Holz mühevoll angeschürt werden. Hier war das ein Luxus! Meine Eltern zeigten sich beeindruckt.
Nach dem Kaffeetrinken führte uns Tante Alice in die Weinstube, nur ein paar Straßen weiter. Sie bestand aus einem großen, dunklen Saal, der in mehreren Nischen abgeteilt war. Daran schlossen sich weitere kleinere Gasträume an. Alles war gediegen eingerichtet. Überall saßen Menschen, die fröhlich tranken, plauderten, rauchten.
Meine Mutter fand es gut, dass auch viele Frauen darunter waren; bei uns im Dorfgasthaus wäre das undenkbar gewesen.
Tante Alice winkte zur Theke, und eine resolut wirkende, ältere Frau, ihr graues Haar zu einem strengen Knoten frisiert, kam auf uns zu. Ihre ganze Erscheinung strahlte Führungsstärke aus.
Alice stellte uns gegenseitig vor. Es war Frau Hartmann, meine künftige Chefin. In ihrem geröteten Gesicht funkelten lebhafte, freundliche Augen.
Sie dirigierte uns zu einem leeren Tisch; ein Kellner eilte sofort herbei, um unsere Wünsche aufzunehmen. Selbstverständlich waren wir eingeladen.
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