Die Tür schloß sich hinter ihrem raschelnden Gewande, aber Burn blieb noch einen Augenblick stehen und horchte durch das Holz ins Treppenhaus. Durch die Decke herab erschollen Gesang und Musik. Pjoff übte noch einmal für den Abend. Burn bemühte sich, so lächerlich es war, die Mädchenstimmen, die sich da vom Orchester abhoben, zu zählen. Es mochten keine fünfzig sein. Bevor er abreiste waren es über hundert gewesen.
Nach einer Weile hörte er zwei Paar leichte Schuhe sich seinem Raume nähern. Er begab sich mit einem tierhaften, lautlosen Sprung an seinen Schreibtisch zurück, ergriff ein faustgroßes, graues Stück Ambra, das da lag, und fuhr sich rasch damit durch den Rock unter die Achselhöhlen und, nach einem lauschenden Ruck zur Tür, auch unter die Hosenbeine um die Fußknöchel herum. Dann warf er sich in den Stuhl und nahm eine gelassene Haltung an.
*
Auferstehen willst du armer Tor,
Um dich hinzulegen wie zuvor?
Hishwa trat ein, die Dorschangel an der Hand. Beide waren befangen, und die Schwingungen der Flips, durch eine Dusche in Hishwas Schlafzimmer schon herabgedrückt, verebbten gänzlich in diesem dämmernd bedrückenden, heizungsschwülen Raume, der überstark nach teuren Riechstoffen duftete, ohne damit den süßlich-pfefferigen Geruch einer fremdartigen Ausdünstung gänzlich aufzusaugen.
Sie nahmen auf Burns milde Einladung Platz. Ketty geziert und lauernd, ohne das Auge von Burns Gesicht zu wenden, das, wie Hiswha mit Genugtuung bemerkte, durch die Brille gehoben, und wenn man von der Farbe absah, geistvoll und dazu sportmäßig männlich zu nennen war, allerdings mit deutlichen Spuren überwundener Entbehrungen. Die Lippen waren weniger dick, die Nase weniger platt, als sie Kettys wegen, der sie im Eifer einen Ausbund an Verkündergestalt versprochen hatte, sich zu erinnern gefürchtet hatte, die Ohren wohlgebildet, das Haar lag in einem tadellosen Scheitel und obgleich glanzlos schwarz, so doch ohne Andeutung üppiger Krausheit über einer hohen, durcharbeiteten Stirn. Ehrwürden trug weiche seidene Wäsche zu einer schwarzen, eng und flott geschnittenen Hausjoppe, ein gut gestreiftes Beinkleid, hellgraue Seidensocken und Lackpumps. Und was man nicht sehen konnte, er war ein Redner, ein unerhört seliger Redner. Hishwa erschauerte bei dem Gedanken an die Wirkung seiner Rede auf ihr zerfranstes, schnippisches Studentinnengemüt von damals.
Sie setzte sich hübsch zurecht, mit gefalteten Händen, und die brave Ketty tat es ihr erwartungsvoll nach, indem sie ihre prächtigen Beine mit den dünnen Florstrümpfen so eng wie möglich an sich zog; sie ließ den besten Willen herüberleuchten, alles zu tun, um kein unliebsames Aufsehen zu erregen.
Hishwa hatte sich schon in das gewöhnliche Schwesternblau des Hauses umgezogen, der Stoff war kostbar, und die Spitzenkrause, auf der ihr kleiner, schön beleuchteter Kopf ruhte, war echtes Brüssel. Sie wußte wohl, daß die arme Ketty trotz ihrer körperlichen Herrlichkeiten in ihrem billigen Seegrün abfiel, aber dennoch mußte und sollte es dem Dr. Burn wohl aufgehen, welch treffliche Beute und mit welch prachtvollem, dickem, sandgelbem Haar sie der Schwarzen Sonne zu bieten habe.
Das Licht in diesem dunkelgetäfelten Raume kam hell bronzefarben durch den Pergamentschirm der Schreibtischlampe. Hishwa sah an ihrer Nachbarin, wie gut es der Haut zu statten kam. Burn, nach einem wägend verbindlichen Blick für beide, vertiefte sich mit einer leichten, maßvollen Geste noch für einige Sekunden in die Blätter, die vor ihm lagen. In Wahrheit aber sammelte er sich.
Sein Verhältnis zu Frauen, freiwillige Enthaltsamkeit, war vormals durch Sport, später geistiger begründet gewesen. Er war ohne körperliche Erfahrung geblieben bis auf die Zeit in Afrika. Klima und Umgebung, Fieber, Einsamkeit und aufbrechende Urpulse, Heimatadern seines Blutes, hatten ihn in fürchterliche Zweifel gestürzt an seiner Sendung, seinem Glauben und seinen Lebensformen. In den Bergen am Njakisisee hatte er die jungfräulichen Gastgeschenke der Stammeshäuptlinge nicht mehr abgelehnt. Himmel und Erde waren ihm erschüttert, er stürzte zurück in den Urgrund verschollener Vorfahren. Nach drei Wochen unerhörter, ausmergelnder Raserei packte das Fieber den Erschöpften und führte ihn, der sich tobend wehrte, an die Schwelle des Auslöschens. Zwei seiner Missionarinnen, von Boten aus entlegenen Bezirken herübergeholt, pflegten ihn gesund, aber, als hätten sie die Kraft der Seuche von ihm ab und opferfreudig in sich selber eingesogen, so raffte es sie, blühende und liebreizende Geschöpfe, beide fast zu gleicher Stunde dahin. Dieses Erlebnis hatte dem Abtrünnigen neue Macht über sich selber und den Teufel in sich gegeben. Seine Erziehung, seine weiße Erziehung, hatte noch einmal über ihn gesiegt. Seine Heimkunft war verzögert worden, aber er kam zurück. In seinen Hirtenbriefen an die Schwarze Sonne waren allerdings Schwierigkeiten äußerlicher Art als Gründe angegeben. Die inneren Kämpfe und den Tod der beiden Schwestern hatte er vorläufig zu verschweigen als ratsam befunden.
Nun angesichts der beiden Mädchen in seinem Zimmer brach die Erinnerung an jene Tage, die er überwunden geglaubt, wie ein spitzer Quell in seinem Innern auf, und er fühlte mit Unruhe, wie er nicht wehtat, sondern kühl und letzend seine Gedanken befiel.
Er wandte sich mit einem verhaltenen Aufatmen seinen Besucherinnen zu.
Ob Schwester Hishwa sich entschlossen habe zu bleiben, fragte er, und ob sie wahrhaft einer neuen Aufgabe aus sich selber bewußt geworden, worüber noch gelegentlich zu sprechen sei.
Er wartete nicht auf den Ablauf ihrer stotternd angesetzten Antworten. Er las ihr und Ketty bequem von der Miene ab, was sie sagen wollten. Er dozierte somit fast, als fürchte er eine Unterbrechung. Es sei die Schwarze Sonne keine unbedingt klösterliche Einrichtung. Nur die Erfahrung der Welt, die unabgeschnittene Verbindung mit dem wirklichen Leben mache geeignet, dieses Leben zu meistern, es zu durchschauen und es zu verbessern. Gewiß gäbe es von den uralten Regeln des Gehorsams und der Keuschheit keine ungesühnte Ausnahme in diesem Hause und unter seinem Schatten. Und in bezug auf persönlichen wie unpersönlichen Reichtum sei hier im allgemeinen alles das Gemeingut aller, ohne daß natürlich, falls sich irgendwelche Fragen darüber ergäben, die Rechtstitel des Besitzes verdreht oder angetastet werden sollten.
In einem Schranke standen mehrere vergoldete und versilberte Musikinstrumente. Es waren alles Saxophone. Hishwa blickte an Burns Kopf vorbei darauf hin. Die Empfindung von heiterer Musik mit dem Beiklang des Orchestrions im Goldkorn machte ihr kleines banges Herz beschwingter. Nein, Dr. Burn ist kein Menschenfresser, dachte sie ermunternd zu ihrer Nachbarin. Siehst du nicht, daß er wie David ein Spielmann des Herrn ist? Schlägt er die Harfe nicht, so bläst er doch himmlisch Saxophon.
Ketty rutschte auf ihrem Sitze verlegen hin und her. Sie hatte sicher nicht recht verstanden, um was alles es sich da handle.
„Frau Ketty Gesh“, sagte Burn, „Ihre Bedenkzeit beträgt vierundzwanzig Stunden, so schreibt es die Missionsregel vor!“ Er erforschte ihr Gesicht mit einem so durchdringenden Blicke, daß sie erst blaß wurde und dann purpurn aufglühte. Sie drängte ihre ganze in bitteren Zeiten erworbene Frechheit zusammen, sie vermochte wohl ihren üppigen Mund zu öffnen, brachte aber noch immer kein Wort hervor. Hishwa fühlte sich gepeinigt durch diese Stummheit und hauchte statt ihrer ein begeistertes „Ja“.
„Ich kenne Sie nun“, sagte Burn mit bodenloser Einfachheit. Er reichte ihr aufstehend die Hand und fügte hinzu, daß er hoffe, sie in diesem Hause wiederzusehen. Sich zu Hishwa neigend, die bebend vor dieser Stimme und dieser Art und Weise ebenfalls aufgestanden war, lenkte er jedoch seine Aufmerksamkeit plötzlich ab und zur Tür, wo sein Diener Sabsai hereinsah und salbungsvoll meldete: „Die Mutter des Herrn Missionsdirektors ist herbeigeeilt, ihren lieben Sohn zu begrüßen.“
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