So finden wir auch in FN-nahen Fachzeitschriften, Reiterkalendern und offiziellen Sportberichten Abbildungen von Pferd und Reiter, die nichts mehr mit einem richtig gehenden Pferd zu tun haben. Diese Zerrbilder haben sich längst in den Köpfen der Betrachter manifestiert und werden, mangels Wissens, als fehlerfrei und gut erachtet. Es tut not, unseren Blick und unser Gefühl für ein korrekt, harmonisch und im Einklang mit dem Reiter gehendes Pferd zu schulen. Wir brauchen jetzt eine Art Renaissance der Reitkultur. Die Rückbesinnung auf die Grundsätze pferdegerechten Reitens, die alte Meister voriger Jahrhunderte für uns bewahrt und vererbt haben und die endlich wieder dorthin gestellt werden müssen, wo sie richtigerweise hingehören - nämlich in den Mittelpunkt aller Reiterei!
Kapitel 1
Gleichgewicht und Leistungsfähigkeit: der Balancesitz
Wie kann ich Leistung von meinem Pferd abfragen und ihm gleichzeitig Freude an der Arbeit vermitteln? Halten wir zuallererst fest, dass zu keiner Zeit das Pferd darum gebeten hat, geritten zu werden. Wenn wir das denn tun, dann sollten wir uns dem Tier gegenüber richtig - und damit meine ich anständig - benehmen. Halten wir uns daran, spricht alles dafür, zu reiten und auch Leistung einzufordern. Genau diese pferdefreundliche und effektive Herangehensweise ermöglicht uns die Lehre der klassischen Reitkunst, die sich ausschließlich an der Natur des Pferdes ausrichtet.
Um pferdegerecht auszubilden und zu reiten, müssen wir als Erstes wissen, dass es in diesem Zusammenhang vier Balancetypen gibt, die wir kennen und beherrschen müssen:
1. den Balancesitz
2. die mentale Balance des Pferdes
3. die horizontale Balance des Pferdes
4. die vertikale Balance des Pferdes
Zunächst müssen wir die Messlatte bei uns selbst anlegen, das heißt, wir müssen uns einen passenden, von der Hand völlig unabhängigen Balancesitz aneignen, der sich mit großer Disziplin und Ruhe in die Bewegungsabläufe des Pferdes einfügen kann. Ein guter Balancesitz ist Voraussetzung und kann die Balance des Gesamtsystems aus Pferd und Reiter erheblich fördern.
Ein empathischer Sitz nimmt Rücksicht auf das Alter und die Ausbildungssituation des Pferdes. So wird sich ein gefühlvoller Reiter bei einem jungen Pferd eher nicht zu stark in den Sattel setzen oder gar mit dem Oberkörper nach hinten lehnen. Auch wird er auf Sporen verzichten und die Gerte nur behutsam dazunehmen. Ich beziehe mich auf E. F. Seidler, der die Lastverteilung des Reitergewichts folgendermaßen erklärt: Für ihn ist bekannt, dass ein Reiter mit einem angenommenen Durchschnittsgewicht von ca. 70 Kilogramm sein Gewicht bei gerader Haltung gleichmäßig auf Vor- und Hinterhand verteilt. Ist das Pferd in den Partien Hinterhand und Rücken noch etwas schwach, dann sollten wir nicht fest einsitzen. Es ist hier eher erforderlich, dass wir den Oberkörper etwas vor die Senkrechte bringen. Dadurch entlasten wir die Hinterhand um geschätzte zehn Kilogramm. Wenn wir gleichzeitig den Bügeltritt verstärken, weil der Sattel im vorderen Drittel des Pferdes liegt, so addieren wir hier weitere fünf Kilo zur Entlastung der schwächeren Partien. Entgegengesetzt dazu ist ein Zurücklehnen des Oberkörpers bei gleichzeitigem Schluss der Oberschenkel, was uns etwas mehr zurück in den Sattel bringt - eine Haltung, die eine zusätzliche Last auf die Hinterhand von mindestens 25 Kilogramm erbringt. Diese Werte sind durch Seidler bereits im 19. Jahrhundert erhoben und niedergeschrieben worden. Deshalb muss meiner Meinung nach ein guter Reiter sein Pferd zwischen seinen Beinen und seinem Gesäß genau ausbalancieren können. Er muss also in der Lage sein, je nach Gleichgewichts- und Ausbildungssituation des Pferdes seinen Sitz sekundengenau anzupassen. Diese von Seidler beschriebene Gewichtsverteilung durch verschiedene Sitzpositionen scheint mir so interessant, dass es der Mühe wert wäre, ihr empirisch auf den Grund zu gehen und mal genauer zu messen!
Ständige Übung und Überprüfung des Reitsitzes durch den Lehrer ist unabdingbar auf dem Weg zum Balancesitz. Gleichzeitig kann dabei auch das Pferd weiter im Gleichgewicht geschult und die Hinterhand in Richtung Schwerpunktlinie herangeschlossen werden. Das Akzeptieren der Anlehnung an die leichte und weiche Reiterhand ist ein sicheres Zeichen für eine gut entwickelte Balance. So entsteht Bewegungsharmonie .
Theorie und Praxis gehören zusammen - untrennbar! Scirocco im versammelten Galopp, wunderbar in Balance und Bewegungsharmonie mit seinem Reiter .
Dieser Reitsitz soll sich also empathisch in die Schwerpunktlinie des Pferdes einfügen und darüber hinaus diese so positiv beeinflussen können, dass daraus Bewegungsharmonie entsteht. Das Erreichen der Harmonie jener zwei Lebewesen, die zu einem großen Ganzen zusammenwachsen sollen, steht hier von Anfang an an erster Stelle! Daraus erst erwächst das Kunstwerk aus Pferd und Reiter, bei dem man nicht mehr sagen kann, wer hier wen führt. Damit steht der Reiter in der Pflicht, dem Pferd zu helfen, das Richtige auszuführen und es nicht zu behindern oder gar zu stören. Mit der Bewegung des Pferdes zu sitzen, ohne zum Beispiel gleich in der Trabverstärkung mit dem Oberkörper hinter die Bewegungen des Pferdes zu gelangen, bedarf hoher Konzentration und eines sehr guten Balancesitzes, der selbstverständlich unabhängig von der Hand auch in deutlich verstärkten Gangmaßen agieren können muss.
Der gute Balancesitz und die volle Konzentration fürs Pferd sind elementare Voraussetzungen im „System der Reitkunst“, wie dies Louis Seeger schon 1844 beschrieb. So bleibt es an uns Ausbildern - in gesteigerter Form gilt das für die Ausbilder der Ausbilder (Trainer, Richter, Lehrer, Funktionäre der Verbände) -, den Sitz des Reiters bei gleichzeitiger Vermittlung von Wissen über die kausalen Zusammenhänge zwischen Sitz, Gefühl, Hilfen zu schulen. Ich kann nur empfehlen, sich als Lehrender seiner großen Verantwortung bewusst zu sein und im Sinne der klassischen Reiterei zu handeln. In keiner anderen Fertigkeit sollen zwei so unterschiedliche Organismen mit ihren eigenen diffizilen Nervensystemen zur Harmonie gebracht werden wie in der Reitkunst. Wie oft sehen wir noch Reiter dies beherzigen?
Rücken und Hanke sowie der Rest des Pferdekörpers müssen zum Erreichen der Balance vorbereitet werden. Mit der oben gezeigten Methode wird die Balance auf der Vorhand eingerichtet. Die Rückenwirbelsäule verläuft weiterhin oder vielleicht sogar noch stärker als zuvor von hinten oben nach vorn unten zur Schulter hin, und die Kruppe kommt hoch. Schlimmer geht es meiner Meinung nach nicht. Es ist ein Irrtum, wenn man glaubt, das Aufrechte im Reitsitz spiele keine Rolle mehr, sondern dass allein das Rundmachen des Halses oder das Ziehen im Pferdmaul die Hinterhand positiv beeinflussen könnte .
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