Ich erzähle Ihnen noch eine Geschichte zum Thema Balance: An der Ungarischen Kavallerieschule in Örkénytábor (1922-1945), gelegen ungefähr 60 Kilometer südwestlich von Budapest, wurden die Gesetze der Balance in der klassischen Reitkunst gemessen und getestet. Zwei große Waagen standen sich gegenüber. Sie ergaben eine Fläche so groß wie eine Pferdebox, obendrauf ein Pferd mit Reiter im Sattel. Auf Waage eins die Vorderhand, auf Waage zwei die Hinterhand. Drum herum standen Militär- und Gestütsoffiziere und Stabsveterinäre mit Bleistift und Papier in der Hand. Die Waage zeigte eine Gewichtsverteilung auf den beiden Flächen von 50 zu 50. Es wurde nachdenklich geschrieben und auf dem Papier gekratzt, das Pferd studiert und mit großen Augen auf die Zahlen auf den zwei Waagen geguckt. Der nächste Schritt war das Anpiaffieren des Pferdes: Waage eins (Vorderhand) zeigte 48 Prozent und Waage zwei (Hinterhand) 52 Prozent. Und das, obwohl das Pferd seinen Hals und Kopf selbst tragen muss. So konnte man damals vor 100 Jahren in Ungarn die Richtigkeit der Dogmen der klassischen Reitkunst wissenschaftlich bestätigen.
Wussten Sie, dass sich das Sinnesorgan für Ihr eigenes Equilibrium in Ihrem Ohr befindet? Jetzt aber Ohren auf! Beim Pferd ist dies genauso! Steht ein Ohr tiefer in der Mutter aller Pferdegymnastik, im Schulterherein, bedeutet das, dass entweder der Reiter oder das Pferd nicht im Gleichgewicht ist. Das Pferd verwirft sich im Genick, es zeigt dem Reitlehrer, Reiter, Richter und Trainer: „Ich versteife mich, ich komme aus der Balance!“, und flugs ist das „klassische Gleichgewichtsreiten“ im Eimer.
Schade, dass die meisten Reiter und Richter das nicht mehr sehen können. Bräuchten Sie vielleicht eine bessere Brille oder einen anderen Blickwinkel? Augen auf, und lesen und studieren Sie diese ernsten Worte, welche Christoph Ackermann über die „Suche nach dem Gleichgewicht“ schreibt.
Ich lade Sie herzlich dazu ein und zitiere unseren Lehrmeister Egon von Neindorff: „Reiten tut man mit dem Kopf!“
Mit reiterlichem Gruß
Jan S. Maiburg,
Reitlehrer/Fahrmeister FN
„Reiten tut man mit dem Kopf!
Egon vom Neindorff
Einleitung
Nehmen wir die Sache der ehrlichen Reiterei ernst!
Eine gemeinsame, energetische Balancesituation zu erreichen, macht die Reitkunst zu einer sehr schönen, aber auch sehr schweren Aufgabe, die nie ganz vollendet werden kann, sodass ein oder mehrere Menschenleben nicht ausreichen, um sie perfekt zu beherrschen. Künste und Wissenschaften erlernen wir im Übrigen auch nicht während des Schlafens und auch nicht durch Bequemlichkeit. Zwar bringen einige Schüler eine überdurchschnittliche Begabung mit. Das Talent allein reicht aber nicht aus, um gut reiten zu lernen. Manch ein Talentierter wird in der reiterlichen Ausbildung von einem „Normalo“ überholt - und das ist nicht so selten. Erlernen kann man viele besondere Fähigkeiten. Nur der eigene Fleiß der Arbeit und die Mühen der ständigen Übungen und deren Wiederholungen bringen uns zur Harmonie, die zwei gegensätzlichen Nervensysteme so unterschiedlicher Lebewesen wie Pferd und Mensch zu einem erfolgreichen Großen und Ganzen zusammenzuführen.
Mein Lehrer Egon von Neindorff sah den klassischen Weg, der sich über Jahrhunderte erfolgreich als systematischer und gesund erhaltender Ausbildungsweg für das Pferd erwiesen hat, als den einzig richtigen und bezeichnete ihn als die Sache. Da dies auch für mich zu 100 Prozent Gültigkeit hat, werde ich diesen Begriff der „Sache“ im Text öfter benutzen.
Bis zu einem gewissen Grad, zum Beispiel bis zum Thema Anlehnung in der Ausbildungsskala, sollte dieses harmonische Große und Ganze jeder erreichen können. Um es zu erlangen, müssen wir eine lange Durststrecke zurücklegen und unser Bestes geben. Ein echter, engagierter Reiter kann das! Doch viele „moderne“ Reiter wollen diesen anstrengenden Weg nicht gehen. Ersatzweise treffen wir dann aber auf geschwätzige Kommentare, gepaart mit modischen Reitaccessoires, die zeigen sollen, wie bedeutsam jene Reiter sind, und den Glanz ihres eitlen, aber reiterlich unbeleckten Auftretens unterstreichen sollen.
Aber ist es nicht doch in der täglichen Arbeitswelt, der Wirtschaft oder in der Wissenschaft so, dass die dort engagierten Menschen acht bis zehn Jahre, ja ihr Leben lang einem Lernprozess unterzogen sind? Und in den Künsten reicht ebenso eine Lebenszeit nicht aus, um annähernd vollkommen zu werden.
„Wir braucken jetzt eine Art Renaissance der Reitkultur.
Nun ist das Reiten eine der schwersten Künste überhaupt. Hier kommen nämlich zwei Persönlichkeiten zusammen. Trotzdem gibt es unzählig viele vermeintliche Fachleute des Reitens, die sich in allerkürzester Zeit so viel Wissen angeeignet haben wollen, wie ein vollkommener Reiter in seinem ganzen Leben generell erfahren kann. Schnell werden dann auch noch teuerste Pferde gekauft, die den erwarteten Erfolg gewährleisten sollen, ganz gleich, wie sie geritten werden. Würde das tatsächlich so funktionieren, dann könnten sich alle reichen Menschen reiterliche Qualitäten kaufen. Aber sie betrügen sich nur selbst, denn die Reitkunst und der richtige Umgang mit dem Pferd sind alles andere, aber nicht leicht!
Aktuell richten sich die Blicke auf die Vorhand, insbesondere auf Hals und Kopfposition des Pferdes, den Rest des Tieres übersehen wir sozusagen. Meiner Meinung nach kommt das daher, dass wir uns heutzutage von einer ungefilterten Flut von Bildern und Filmen verleiten lassen und diese als richtig annehmen, ohne mit der nötigen Sorgfalt Abläufe und deren Zusammenhänge genauer zu hinterfragen. Würden wir Bilder sowie Bewegungen mit mehr Wissen und genauer betrachten, dann kämen wir zu einem viel differenzierteren Ergebnis. Der geeignetste Ansatz, Dargebotenes besser bewerten zu können, wäre, das Pferd im Hinblick auf Balance und Harmonie zu beurteilen.
Bei der Balance geht es physikalisch darum, Fliehkräfte wie die Zentrifugalkraft (von innen nach außen wirkend) und ihre Zentripedalkraft (gegenläufig, also der Zentrifugalkraft entgegengesetzt von außen nach innen wirkend) unter Berücksichtigung der Erdanziehung ins Gleichgewicht zu bekommen. Erst wenn diese gegenläufigen Kräfte sich ausgleichen, sind sie im Gleichgewicht. Ist das der Fall, dann bringt uns die Normalkraft (senkrecht zur Gravitation), die sich auf den Schwerpunkt jedes Körpers bezieht, tief in den Sattel und damit in die Bewegung des Pferdes.
Christoph Ackermann auf seinem Erfolgspferd Champus, wunderbar gezeichnet von Renate Blank. Das reiterliche Haupterfordernis: unsere Pferde in allen Gängen und Touren in die richtige Balance zu bringen und darin zu erhalten .
Was muss ich wissen, um dahin zu gelangen?
Physikalisch gesehen befindet sich jeder Körper zu einem gegebenen Zeitpunkt in einer bestimmten Lage. Jeder Körper hat somit genau einen Schwerpunkt. Diese Lage kann verändert werden. In welchem Gleichgewicht sich ein Körper befindet, hängt von der Lage des Schwerpunkts ab. Befindet sich ein Körper in Bewegung, so liefert er eine ständige Veränderung (räumlich, zeitlich) seines Schwerpunkts in Reihe ab, sodass wir dann von einer Schwerpunktlinie sprechen müssen. Die passende Gleichgewichtslage beim Pferd ist die Voraussetzung, dass es uns die Energie und den Antrieb liefern kann, die feines Reiten für uns erst ermöglichen. Beim Reiten haben wir es aber gleich mit zwei Körpern zu tun.
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