Andererseits, am heutigen Tag ... Hatte sie nicht das sichere Gefühl, heute sei alles möglich? Sie tröstete sich mit dieser Hoffnung und stellte den Computer an. Dort, auf dem grauen Monitor, besuchte Mrs Craig erneut den Pfarrer, der ihr – ohne seine geistliche Überzeugungskraft einzubüßen – berichten konnte, dass ihr Mann an dem Tag, an dem er eigentlich in London sein sollte, hinter einigen Rhododendrenbüschen des Dorfes mit der verschrobenen, vulgären Liza Smith beobachtet worden sei. Janne seufzte und begann das Abendessen vorzubereiten. Sie rieb die Saiblinge mit Salz, Pfeffer und Knoblauch ein, während sie dem Radio lauschte, legte sechs junge Kartoffeln in einen Kochtopf und stellte die Herdplatten an, goss Olivenöl in die Bratpfanne und vermischte es mit einem Stich Butter. Dann deckte sie den Küchentisch, wobei sie feststellte, dass sich die Radionachrichten im Lauf des Tages nicht geändert hatten. Die UNO übte scharfe Kritik am israelischen Krieg im Südlibanon. Sollte sie die letzte Flasche Weißwein aus dem Keller holen? Die Waffen einer Frau einsetzen, so wie Tove ihr geraten hatte? Nein, wenn ihr etwas widerstrebte, dann war es, sich auf diese Weise an ihn heranzumachen. Ach, wenn man noch einmal jung wäre, Toves nie versiegenden Elan und Optimismus besäße!
Sie warf einen Blick auf die Digitaluhr über dem Herd. 16:15. Eines musste man Björn lassen. Er gab immer Bescheid, wenn er sich verspätete oder Überstunden machen musste. Normalerweise kam er um Viertel nach vier zu Hause an. Sie goss das Wasser ab, legte die Kartoffeln in eine Terrine und zog die Pfanne von der heißen Herdplatte. Trat ans Fenster und spähte über die Straße. Dann eilte sie die Treppen hinunter, schloss das Kellerabteil auf, griff nach der Weinflasche und kicherte. Um die Versuchung in Grenzen zu halten, hatten sie sich darauf geeinigt, ihren »Weinkeller« in möglichst weiter Entfernung von der Wohnung zu haben, doch offenbar war die Entfernung noch nicht groß genug. In der Küche kämpfte sie eine Weile mit dem Korken, bevor sie ihn herausgezogen hatte, zwei Weingläser holte und auf den Tisch stellte. Voilà!
Als sie das nächste Mal auf die Uhr blickte, war es Viertel vor fünf. Sie hob den Deckel von der Pfanne. Der Duft war betörend, doch die Bratkruste löste sich bereits vom Fleisch. Die Konferenz – oder die Konferenzen – dauerte natürlich länger als angenommen. Es war nicht so einfach, solch eine Sitzung zu verlassen, um zu Hause anzurufen, wenn man sich gerade in schweißtreibenden Verhandlungen über wichtige Einsatzpläne befand. Janne deckte anstelle des Küchentischs den Wohnzimmertisch und fand zwei gelbe Kerzen, die noch aus der Osterzeit stammten. Danach zündete sie sich eine Zigarette an und stellte sich ans Fenster.
Als die Zeiger fünf Uhr passiert hatten, ging sie zum Telefon und wählte die Nummer des Polizeipräsidiums. Sie wollte nicht stören, wollte auch gar nicht darum bitten, mit Björn zu sprechen, sondern nur wissen, ob er das Haus bereits verlassen hatte.
»Andersen, Zentrale.«
Sie kannte den Mann nicht. »Hier ist Janne Hatling.«
»Ja, bitte?«
»Können Sie mir sagen, ob Björn Hatling schon aus dem Haus ist?«
»Einen Augenblick.«
Im Hintergrund hörte sie aus dem Küchenradio Days of Wine and Roses . Sie stellte fest, dass sie die Zigarette in der Hand hielt und keinen Aschenbecher hatte.
»Hören Sie ...«, sagte Andersen.
»Ja?«
»Björn Hatling ist heute nicht zur Arbeit erschienen.«
Für einen Augenblick kam ihr das aufregende Gefühl der Vorfreude abhanden.
»Das muss ein Irrtum sein. Er ...«
»Nein, nein, ich habe die Personalliste vor mir. Er hat sich heute frei genommen. Abbau von Überstunden.«
Janne sah, wie sich die Asche von der Zigarette löste und auf den Teppich fiel. Doch nachdem sie aufgelegt hatte, wurde ihr klar, dass Andersen natürlich Bescheid wusste. Björn hatte sie an der Nase herumgeführt. Vorsätzlich , wie es nach kriminalistischer Terminologie hieß. Weil er etwas im Schilde führte. Etwas, das Zeit benötigte. Zu Hause würde er die Katze aus dem Sack lassen. Ihr wurde inwendig warm. Erneut dachte sie an das verschmitzte Blitzen in seinen blauen Augen, das stumme Einverständnis, das sich womöglich auf ihren Vorschlag bezog, einmal etwas ganz Besonderes zu unternehmen. Lieber Björn, ich liebe dich. Wirst du wieder der Alte? Die neu auflebende Spannung ließ ihr Herz schneller schlagen. Was konnte das nur sein, das einen ganzen Tag Vorbereitung benötigte? Streifte er durch die ganze Stadt, um ein neues Auto zu kaufen? Nein, der Mitsubishi Lancer war erst vier Jahre alt. Es musste sich um etwas ganz anderes handeln, etwas, das sie sich im Moment gar nicht vorstellen konnte. Ein Frühjahrskostüm? Ein neuer Laserdrucker für ihren Computer? Sie presste den Korken zurück in die Weinflasche und stellte sie in den Kühlschrank. Gestern Abend, als Björn vom Fußballplatz kam – er trainierte eine Jungenmannschaft –, hatte sie zu ihm gesagt: »Stell dir vor, wir würden im Mai zum Shopping nach London fahren.«
»Ja, das wäre was.«
Doch seine Stimme hatte nicht verraten, was er eigentlich von dem Vorschlag hielt.
Die Minutenziffern der Uhr über dem Herd wechselten langsam. Sie dachte an das Essen, das bald ungenießbar sein würde; die leckeren Tiefsee-Saiblinge unter dem Deckel, die mehr und mehr an graue Holzscheite erinnerten. Als die Uhr fünf Minuten vor sechs anzeigte, wurde ihr plötzlich klar, dass Björn, falls er wirklich eine Überraschung vorbereitete, mit Sicherheit angerufen, sie beruhigt und ihr versichert hätte, dass die Konferenz länger dauere als veranschlagt. Der Plan basierte doch darauf, dass sie seine eigentlichen Beweggründe nicht kannte. Oder rechnete er damit, dass ihr die Verzögerung nichts ausmachte, dass sie in Erinnerung an seine morgendlichen Signale – die Munterkeit, das Lächeln – die Ruhe bewahren würde, weil sie gewiss wäre, dass er vorhabe, mit etwas Besonderem aufzuwarten, wenn er endlich nach Hause kam?
Sie zündete sich eine weitere Zigarette an. Auch Sir Patrick Craig konnte mit etwas Besonderem aufwarten: einer jungen Frau, von der Mrs Craig besser nichts erfuhr. Ach komm, Janne!
Wie dem auch sei, es ließ sich nicht leugnen, dass ihre Erwartung mit Besorgnis gepaart war. Eine oberflächliche Besorgnis, sagte sie sich, doch sie konnte den ekelhaften Klumpen, der sich hoch oben in ihrer Brust bildete und das Atmen erschwerte, nicht loswerden. Sie beruhigte sich ein wenig mit dem Gedanken, dass Björns Vorhaben ihn womöglich an einen Ort geführt hatte, an dem es kein Telefon gab. Doch er hatte immer sein Handy dabei, wo er auch war. An einem Tag, der vermutlich ein Freudentag werden sollte, hatte er ihr sicher keinen Kummer machen wollen. Irgendetwas war faul.
Dann dachte sie plötzlich an Anne-Lise, die Freundin aus dem Lesekreis, die vor einigen Wochen spurlos verschwunden war, und für mehrere unerträgliche Sekunden sah sie Björn vor sich, als leblose, übel zugerichtete Gestalt in einem Autowrack. Kalter Schweiß brach ihr aus, und sie fragte sich, ob sie das Kreiskrankenhaus anrufen sollte. Danach zwang sie sich zu einem selbstironischen Lächeln. Es war nicht das erste Mal, dass sie auf solche Gedanken kam. Wenn Björn nicht zur gewohnten Zeit nach Hause kam – früher, bei Tove, war es genauso gewesen –, beschleunigte sich ihr Herzschlag. Genau wie jetzt war sie dann ruhelos durch die Wohnung getigert, während die Angst von ihr Besitz ergriff. Hatte sich den wildesten Spekulationen hingegeben und nach den makabersten Erklärungen gesucht. Nachher, wenn die kleine Familie beisammen war und sich gezeigt hatte, dass wieder einmal ihre Fantasie mit ihr durchgegangen war, sah sie ein, wie dumm sie sich verhalten hatte, und nahm sich vor, nie mehr der schrecklichen Intuition zu vertrauen, die sie erneut getäuscht hatte. Obwohl sie dies alles nur zu gut wusste, nahm der Klumpen in ihrer Brust solche Dimensionen an, dass sie das Gefühl hatte, er könne sie in Stücke reißen. Und es kam der Augenblick, in dem die ursprüngliche Vorfreude in blanke Wut umschlug, die sich gegen Björn richtete.
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