Ralea wirbelte herum. Hatte da nicht gerade hinter ihr ein Ast geknackt? Sie kniff die Augen zusammen und spitzte die Ohren. Doch es war mittlerweile schon ziemlich düster und sie konnte nichts Ungewöhnliches erkennen. Außerdem war es wahrscheinlich sowieso nur ein Reh, das mehr Angst vor ihr hatte, als sie vor ...
Schon wieder! Diesmal direkt vor ihr. Ihr Herzschlag beschleunigte sich. Bildete sie sich das alles nur ein oder hatte sie da gerade ein Schnaufen gehört? Ein rasselnder Atem, das Rascheln von Laub.
Da war jemand. Ganz bestimmt! Und nicht nur einer. Es mussten mehrere sein. Ralea war unfähig, sich zu bewegen, war starr vor Schreck. Wer konnte das sein? Menschen aus ihrem Dorf? Vielleicht einige von denen, die sich nicht von Morgana hatten überzeugen lassen und immer noch an ihr zweifelten? So sehr, dass sie sie nun verfolgten und sie im Wald, weit ab vom Dorf, überwältigen und von ihrem Vorhaben abbringen wollten?
Ohne Vorwarnung brach etwas vor Ralea aus dem Gebüsch und sprang auf sie zu. Sie sah nicht mehr als schmutzige graue Haut, Krallen, die durch die Luft wirbelten und nach ihr griffen. Und Augen. Schreckliche gelbe Augen ohne Pupille. Ralea stieß einen spitzen Schrei aus und rannte los, noch bevor diese Bestie wieder sicher auf ihren Beinen stand. Sie rannte, wie sie noch nie gerannt war. Äste schlugen ihr ins Gesicht und zerkratzten ihre Beine. Sie stolperte, schlug sich die Knie auf, rappelte sich wieder hoch, rannte weiter.
Auf einmal hörte sie wieder diesen rasselnden Atem. Dieses Wesen war dicht hinter ihr. Gleich würde es sie eingeholt haben ... Und dann sprang tatsächlich eine weitere dieser Bestien direkt vor ihr aus dem Gebüsch. Diesmal blieb ihr der Schrei im Halse stecken. Diese schrecklich gelben Augen! Sie starrten sie an. Sollten sie das Letzte sein, was Ralea sah, bevor sie starb?
Etwas sauste knapp an Raleas Kopf vorbei. Sie spürte den Luftzug auf der Haut. Die Bestie vor ihr heulte auf, doch Ralea nahm sich nicht die Zeit zu sehen, was passiert war. Sie warf sich zur Seite und rannte weiter. Ihre Kehle brannte und ihre Knie schmerzten, doch sie spürte es kaum. Sie hatte nur einen Gedanken im Kopf: Weg, weit weit weg von diesen Monstern!
Wieder war ein Keuchen direkt neben ihr zu hören. Sie brauchte nicht nachzusehen, um zu wissen, dass mehrere der Bestien sie eingeholt hatten und auf gleicher Höhe mit ihr liefen. Ralea versuchte verzweifelt, ihr Tempo zu steigern, doch sie war zu erschöpft. Plötzlich brach sie aus dem Unterholz und stand inmitten einer kleinen runden Lichtung. Die verhältnismäßig weite Sicht an diesem Ort überraschte sie und sie geriet ins Stolpern. Der Beutel rutschte ihr von den Schultern und fiel zu Boden. Er enthielt ihr gesamtes Wasser und ihren Proviant, doch sie ließ ihn an Ort und Stelle liegen und rannte weiter, auf den gegenüberliegenden Rand der Lichtung zu.
Aber ehe sie dort ankam, sprang eines der gelbäugigen Monster vor ihr aus dem Unterholz und fletschte die Zähne. Ralea sprang erschrocken zurück und lief in eine andere Richtung, doch auch dort sprang ihr eines der Biester entgegen und blieb fauchend stehen. Panisch drehte sie sich im Kreis und suchte nach einem Ausweg, doch überall standen sie, scharrten mit den Krallen und starrten sie an.
Raleas eigener Herzschlag dröhnte ihr in den Ohren. Kurz spielte sie mit dem Gedanken, auf einen Baum am Rande der Lichtung zu klettern, doch sie verwarf ihn noch im selben Moment.
Es war aus.
Sie hatte keine Chance.
Sie würde ihr Dorf niemals wiedersehen! Ihre Eltern, Lora ...
Die Bestie ihr gegenüber verzog den Mund zu einer Grimasse, die auf grauenhafte Weise an ein hämisches Grinsen erinnerte. Langsam kam sie auf sie zu, auch die anderen schlossen den Kreis um sie enger, kamen näher und näher ...
Dann sirrte plötzlich etwas durch die Luft. Ralea nahm eine schnelle Bewegung am Rande ihres Blickfeldes wahr, dann noch eine. Zwei der Bestien ihr gegenüber heulten auf. Eine brach sofort zusammen und regte sich nicht mehr. Ein gefiederter Schaft ragte aus ihrer Schläfe. Die andere gab einen ohrenbetäubenden Schrei von sich, der auch die anderen Monster innehalten ließ. Die verwundete Bestie wälzte sich am Boden, sprang dann wieder auf die klauenbewehrten Füße und rannte blindlings los und in den Wald hinein. Die anderen schienen unschlüssig darüber zu sein, was sie tun sollten, und Ralea wagte es, einen verrückten Moment lang Hoffnung zu schöpfen, dass sich alles zum Guten wenden könnte.
Doch dann kamen die Bestien auf sie zu. Schneller und schneller. Ralea wich zurück. Wieder flog etwas durch die Luft. Endlich erkannte sie, was es war: Drei Pfeile bohrten sich schnell hintereinander in die Bäume hinter den fünf verbliebenen Bestien. Diese zogen erschrocken die Köpfe ein. Sie schienen es nun doch mit der Angst zu tun zu bekommen. Als ein vierter Pfeil durch die Luft sirrte und eine der Bestien nur um Haaresbreite verfehlte, schrak diese zusammen und rannte schnurstracks zurück in den Wald. Drei weitere folgten ihr sofort und verschwanden im Dickicht. Die letzte jedoch zögerte. Einen Moment lang blieb sie ungerührt stehen und sah Ralea mit ihren blicklosen gelben Augen hasserfüllt an. Dann folgte auch sie dem Beispiel ihrer Artgenossen und rannte davon.
Ralea sank auf die Knie und vergrub das Gesicht in den Händen. Sie zitterte am ganzen Körper und schluchzte mit bebenden Schultern. Die Erleichterung vertrieb ihre Angst, selbst die Schmerzen in ihren aufgekratzten Beinen und Armen fühlten sich herrlich an, waren sie doch ein sicheres Zeichen dafür, dass sie noch am Leben war. Sie war sich so sicher gewesen, dass es vorbei war, und hatte sich bereits mit der Tatsache abgefunden, zu sterben. Jetzt noch zu atmen, das Gras zu spüren und ihre salzigen Tränen zu schmecken war genauso wunderbar wie unwirklich.
„Hey, alles klar bei dir?“
Ralea stieß einen erstickten Schrei aus, sprang hastig auf die Füße und wirbelte herum.
Hinter ihr stand ein junger Baumling, der sie besorgt musterte. „Entschuldigung, ich wollte dich nicht erschrecken!“, sagte er schnell und lächelte schief.
Ralea wischte sich mit dem Handrücken notdürftig über die tränennassen Wangen. „Da...das macht doch nichts“, sagte sie mit schwacher Stimme.
Nachdem der erste Schock vorüber war und sie wieder klar denken konnte, musterte sie ihr Gegenüber genauer. Sie hatte in ihrem Leben noch nicht viele Baumlinge gesehen. Sie lebten für gewöhnlich tief in den Wäldern und zeigten sich den Menschen nur bei den seltenen Tauschgeschäften, die sie untereinander führten. Dabei brachten die Baumlinge Früchte oder erlegte Tiere mit, die es nur in den nördlicheren Wäldern gab, und erhielten dafür Kleidung oder Pflanzen, die die Menschen auf den kleinen Feldern, die sie dem Wald abgerungen hatten, anbauten.
Der Baumling, der nun vor ihr stand, war fast einen Kopf größer als sie, doch Ralea schätzte, dass er ungefähr ihr Alter hatte. Er war schlank und drahtig, wie alle Baumlinge, und alles an ihm war grün: die Iris seiner Augen, seine Haare, die er zu vielen kleinen Zöpfen geflochten und dann zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden hatte, und sogar seine Haut und seine langen spitzen Ohren. Nur seine Kleidung und Stiefel ähnelten der von Ralea – mit der Ausnahme, dass er eine Hose trug und keinen Rock. Gut möglich, dass er sie von den Menschen erworben hatte. Über seiner Schulter hing ein Köcher, in dem noch etwa ein halbes Dutzend dünner gefiederter Pfeile steckte, und in der Hand hielt er einen kleinen, schlichten, aber eleganten Bogen.
Ralea war so eingenommen von seinem fremdartigen Äußeren, dass ihr erst jetzt bewusst wurde, dass er sie ebenso neugierig und unverhohlen musterte wie sie ihn. Beschämt schlug sie die Augen nieder.
Auch er räusperte sich etwas verlegen und sagte dann: „Ich sollte mich wohl erst mal vorstellen: Mein Name ist Tajo.“
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