Sie liefen noch ein paar Schritte schweigend weiter, um möglichst weit weg von dem toten Gnom zu sein. Dann setzten sie sich zu den Wurzeln eines großen Baumes.
Tajo entfachte mit Raleas Feuersteinen geübt ein kleines Lagerfeuer, das die Gnome fernhalten sollte – sicher war sicher –, dann knabberten sie noch ein wenig von Raleas Brot und legten sich beide erschöpft in das weiche Moos.
Tajo schlief fast auf der Stelle ein. Sein gleichmäßiger Atem beruhigte Ralea – die sich schon darauf eingestellt hatte, noch stundenlang wach zu liegen und sich hin und her zu wälzen – ungemein und zusammen mit dem Rauschen der Blätter und ihrer eigenen Müdigkeit wiegte es sie schließlich in einen tiefen, traumlosen Schlaf.
*
Als Ralea am nächsten Morgen aufwachte, brauchte sie einen Moment, um sich daran zu erinnern, wo sie war. Um so plötzlicher strömten dann auf einmal die Erinnerungen auf sie ein: der Abschied, der Tag im Wald, die Gnome ... und Tajo.
Tajo! Auf einmal war Ralea hellwach und setzte sich kerzengerade auf. Doch sie war allein. Neben ihr lag ihr Lederbeutel und auf der anderen Seite war die erkaltete Feuerstelle. Von Tajo keine Spur. Vergeblich versuchte sie, ihre Enttäuschung zu ignorieren. Warum war er weggegangen? Hatte er es sich anders überlegt oder hatte er im Grunde nie wirklich vorgehabt, sie zu begleiten? Ralea seufzte und rappelte sich auf. Jetzt noch darüber zu grübeln brachte sowieso nichts mehr – er war weg. Sie schulterte gerade ihren Beutel, als eine Stimme an ihr Ohr drang: „Was, du willst schon weg?“
Ralea fuhr erschrocken herum. Hinter ihr stand Tajo und lächelte sie unschuldig an. „Musst du dich immer so anschleichen?“ Raleas Stimme war unfreundlicher, als sie es beabsichtigt hatte. In Wahrheit jubelte sie: Er war doch nicht gegangen! „Ich habe mich beinahe zu Tode erschrocken. Wo warst du überhaupt?“, sagte sie laut.
„Frühstück besorgen!“ Er hielt zwei dicke erdige Knollen hoch. „Oder hast du etwa keinen Hunger?“
„Und warum nimmst du dafür deine gesamte Ausrüstung mit?“ Ralea sah vielsagend auf den Köcher mit den Pfeilen und den Bogen, die über seiner Schulter hingen.
Er zuckte mit den Achseln. „Alte Angewohnheit. Du findest auch immer was zu meckern, wie? Probier das mal, das wird deine Laune heben!“ Er hielt ihr eine der Knollen hin und wischte seine eigene an seiner Hose sauber.
„Was ist das?“, fragte Ralea interessiert und tat es ihm nach.
„Die Knollen von Knarrwurzen“, antwortete er und biss herzhaft hinein.
„Knarrwurzen?!“, rief Ralea entgeistert. „Die sind giftig!“ Ihre Eltern hatten sie immer vor diesem Kraut gewarnt, das im Wald wuchs und einem höllische Bauchschmerzen und Durchfall bereiten konnte, wenn man es aß.
Tajo winkte ungeduldig ab und schluckte seinen Bissen hinunter. „Ja, die Blätter und die Blüten schon. Aber nicht die Wurzeln. Probier mal – schmeckt echt gut!“
Einen Moment zögerte Ralea, doch dann siegten der Hunger und die Neugier. Vorsichtig biss sie ein kleines Stück heraus, das sie langsam zerkaute. Ein süßlicher Geschmack breitete sich in ihrem Mund aus, der sie ein bisschen an gekochten Mais erinnerte, aber doch war er ganz anders als alles, was sie je gegessen hatte.
„Gut, wasch?“, fragte Tajo mit vollem Mund.
Ralea nickte begeistert. „Warum sind die Menschen nur noch nicht darauf gekommen?“
Tajo zuckte mit den Achseln, als würde ihn das nicht besonders wundern. „Du musst zugeben“, sagte er, „dass die Menschen an so gut wie allem, was sich nicht innerhalb ihres Dorfes abspielt, kein Interesse haben.“
„Das ist nicht wahr!“, protestierte Ralea automatisch, doch dann verstummte sie nachdenklich.
Es stimmte, dass die Menschen ihr Dorf nur verließen, um zu jagen oder Beeren zu sammeln. Und selbst dann entfernten sie sich nur so weit, wie gerade nötig. „Es kann gut sein“, dachte Ralea leicht beängstigt, „dass noch niemand aus meinem Dorf so weit im Wald gewesen ist, wie ich jetzt.“ Ihr nachdenkliches Gesicht schien Tajo Genugtuung zu verschaffen, so zufrieden, wie er aussah. Zum ersten Mal kam Ralea der Gedanke, dass nicht nur die Menschen Vorurteile gegenüber den Baumlingen haben könnten, sondern auch die Baumlinge gegenüber den Menschen.
„Sollen wir uns so langsam mal auf den Weg machen?“, fragte Tajo nach einer Weile.
Ralea hörte auf zu essen. Der Appetit war ihr mit diesem Satz gründlich vergangen. Sie hatte nämlich gehofft, diesen Moment noch etwas hinauszögern zu können. „Ja, das sollten wir“, sagte sie schwach. „Doch nicht gemeinsam.“
Zu ihrer Verwunderung schien Tajo kein bisschen bestürzt über diese Aussage. „Ach!“ Er sah sie mit gespieltem Tadel an. „Geht das schon wieder los!“
„Ja, allerdings!“ Ralea war hin und her gerissen, seine Art furchtbar schmeichelhaft zu finden, weil er so hartnäckig war, oder wütend zu werden, weil er ihre Selbstbeherrschung damit ziemlich auf die Probe stellte. „Wir können nicht zusammen gehen. In dem Vertrag unserer Ahnen steht geschrieben, dass sich nur ein Auserwählter eines Volkes auf den Weg machen wird ...“
Tajo stöhnte genervt. „Wen juckt denn noch, was diese toten Opis vor dreihundert Jahren vor sich hingekritzelt haben?“
Ralea klappte ein paar Mal den Mund auf und wieder zu, ehe sie antworten konnte: „Mich juckt das! Und dich sollte es eigentlich auch jucken!“
Er verdrehte die Augen. Ralea fragte sich, ob wohl alle Baumlinge so respektlos waren, oder ob sie einfach ein besonders schlimmes Exemplar erwischt hatte. „Und was ist, wenn die Gnome wiederkommen?“, fragte er plötzlich.
Ralea wurde totenblass. „Du hast gesagt, die kommen nicht wieder.“
„Ja, aber ich bin mir nicht sicher. Alles, was ich weiß, basiert auf Geschichten, die man sich abends vorm Einschlafen erzählt. Garantieren kann ich für nichts.“
Ralea wusste nicht, was sie erwidern sollte. Allein bei dem Gedanken an diese scheußlichen gelben Augen brach ihr kalter Schweiß aus. „Was wollten die bloß von mir?“, flüsterte sie anstatt einer Antwort.
Tajo schien es leidzutun, ihr so eine Angst eingejagt zu haben. Sanft sagte er: „Ich weiß es nicht. Aber ich weiß, dass die Erfüllung deiner Aufgabe Vorrang vor allem anderen hat. Ist doch so, nicht wahr?“
Ralea nickte. „Auf jeden Fall.“
„Und genau das ist in Gefahr, wenn ich dich weiterhin allein und schutzlos durch die Gegend laufen lasse. Es wäre also nur vernünftig, wenn ich dich begleite. Und ich bin mir ziemlich sicher, dass unsere Ahnen da einer Meinung mit mir wären.“ Er grinste triumphierend und verschlang schmatzend den Rest seiner Knarrwurzknolle.
Ralea starrte nachdenklich vor sich hin. Das war allerdings ein schlagkräftiges Argument. Ihr war zwar immer noch nicht ganz klar, warum er so versessen darauf war, sie zu begleiten – denn das war er ja allem Anschein nach schon gewesen, bevor die Gnome sie überhaupt überfallen hatten – aber das war ihr im Moment auch egal. Sie war viel zu erleichtert, nun einen guten Grund zu haben, ihm gemeinsam gehen zu können – und natürlich war sie froh, jemanden zu haben, der sich verteidigen konnte, falls die Gnome wiederkamen.
„Ich denke, du hast recht“, stimmte sie zu und gab sich Mühe, ihre Freude nicht allzu sehr zu zeigen.
Tajo tat sich da keinen Zwang an. „Wunderbar!“, rief er laut. „Dann sind wir von nun an also Gefährten!“ Ralea lächelte schüchtern.
Ohne ein weiteres Wort machten sie sich auf den Weg. Ralea knabberte beim Gehen an dem Rest ihrer Knarrwurzknolle und warf ihrem neuen Gefährten hin und wieder einen verstohlenen Blick aus dem Augenwinkel zu. Dieser schien sich nicht darüber zu wundern, dass Ralea intuitiv wusste, wo es lang ging.
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