Seine Stimme und sein Gesicht spiegelten die Bitterkeit und den Zorn wider, den er empfand. „Ich habe mich einfach in der Nacht davongeschlichen. Es hat niemand versucht, mich aufzuhalten.“ Er zuckte mit den Achseln, fast so, als wolle er die Gefühle wegwischen, die er gerade so offen gezeigt hatte. „Tja, und als ich dann bei deinem Dorf ankam, wurdest du gerade verabschiedet. Ich war genau rechtzeitig am richtigen Ort. Ich bin dir hinterhergelaufen, weil ich erst weiter wegwollte vom Dorf, bevor ich mich dir zeige. Wahrscheinlich war der Sicherheitsabstand, den ich dabei gehalten habe, ein bisschen zu großzügig bemessen, denn ich habe erst reichlich spät gemerkt, dass ich nicht der Einzige war, der dir hinterher geschlichen ist.“ Er lächelte, als wollte er sich dafür entschuldigen. „Und den Rest kennst du ja.“
Ralea nickte. Was für eine Ironie des Schicksals, dachte sie, dass Tajo so gerne in die weite Welt ausziehen wollte und dafür nur belächelt wurde, während sie, die eigentlich nie von ihrem Dorf hatte weggehen wollen, dafür auserwählt worden war, durch halb Romanien zu ziehen und das größte Abenteuer ihres Lebens zu bestehen. „Ehrlich gesagt bin ich verdammt froh darüber, dass du mit mir kommst.“ Die Worte waren schon draußen, bevor Ralea überhaupt merkte, was sie da gesagt hatte. Sie wurde vor Scham puterrot.
Doch Tajo schien sich darüber zu freuen. Er grinste sie wieder breit und an und sagte: „Tatsächlich? Ich hatte schon fast befürchtet, du wärst so eine abgebrühte Einzelgängerin, der ich eigentlich tierisch auf den Geist gehe.“
Ralea lachte laut auf. „Ich? Oh nein! Hast du denn nicht gesehen, wie sehr ich geheult habe, als ich mich von meiner besten Freundin verabschiedet habe? Am liebsten wäre ich nie weggegangen von meinem Dorf, aber ich musste, weil der Elfenstein nur eine einzige Wahl akzeptiert. Und die fiel nun mal auf mich.“
Auch Tajo lachte leise. „Gut, wirklich geglaubt habe ich es auch nicht. Dafür heulst du wirklich zu viel rum.“
„Was?!“, rief Ralea mit gespielter Entrüstung und schubste Tajo gegen die Schulter, sodass er mitten ins Gebüsch fiel.
„He!“, rief er überrascht und fing sich gerade noch an einem tief hängenden Ast ab. Ralea streckte ihm die Zunge raus und wich seiner Hand aus, als er versuchte, sie zu erwischen.
Eine Weile alberten sie noch herum, dann liefen sie schweigend weiter. Dabei war es kein unangenehmes Schweigen. Ihre gegenseitigen Geständnisse hatten die Atmosphäre zwischen ihnen aufgelockert und sie näher zusammen gebracht.
Ralea konnte nicht aufhören, sich über sich selbst zu wundern. Sie war noch nie so ausgelassen gewesen gegenüber jemandem, den sie erst einen Tag lang kannte. Doch das lag wahrscheinlich an ihrer außergewöhnlichen Situation. Außerdem hatte Tajo so etwas Heiteres und Gelassenes an sich, das es einfach unmöglich machte, ihm gegenüber schüchtern zu sein.
Als es auf den Abend zuging und sie sich erneut eine Stelle zum Schlafen suchten, dachte Ralea bei sich, dass sie als Fremde aufgewacht waren und als Freunde einschlafen würden.
*
Kaum dass der nächste Morgen graute, wurde Ralea ziemlich unsanft dadurch geweckt, dass jemand sie an den Haaren zog. Verschlafen schlug sie die Augen auf – und schaute mitten in das feixende Gesicht einer Pitzi. Ruckartig fuhr sie auf und stieß im selben Moment einen spitzen Schrei aus: Ihre Haare waren mit einem Strauch hinter ihr verknotet.
Die Pitzi lachte keckernd und flog davon. Erst jetzt bemerkte Ralea, dass es nicht die einzige war. Überall um sie herum flogen Pitzi durch die Luft, räumten ihren Proviantbeutel aus, schmissen seinen Inhalt durch die Luft und spielten mit Tajos Pfeilen, der gerade erst von Raleas Schrei aufgewacht war.
Auch er war sofort hellwach und sprang auf die Füße – seine Haare hatten sie wenigstens nicht mit irgendwelchen Pflanzen verknotet! Während er fluchend versuchte, dem Pitzi seine Pfeile abzunehmen, machte Ralea sich daran, ihre Haare von dem Strauch zu lösen. Ihre Kopfhaut brannte höllisch und sie riss sich einige Strähnen aus, bis sie endlich aufstehen konnte.
Pitzi waren eine Unterart der Elfen. Sie waren etwa so groß wie Raleas ausgestreckte Hand, hatten libellenartige Flügel und lebten im gesamten Waldgebiet Romaniens. Sie hatten blasse Haut und ebenso farbloses Haar, das sie jedoch gewissenhaft mit dem Saft von giftigen Beeren färbten. Sie fertigten sich einfache Kleidung aus Blättern und unterhielten sich mit ihren piepsigen Stimmen in einer schnellen, unverständlichen Sprache. Sie verirrten sich zwar selten in die Menschendörfer, doch Ralea hatte sie trotzdem schon kennen – und fürchten – gelernt. Zwar waren sie nicht besonders groß, doch machten sie das durch ihre Anzahl und Dreistigkeit locker wett. Es waren furchtbare Quälgeister, die jede Chance nutzten, um jemandem eins auszuwischen oder ihm einen Streich zu spielen. Und wenn man sich dann aufregte und versuchte, sie zu verscheuchen, stachelte man sie nur noch mehr an.
Tajo hüpfte immer noch wild durch die Gegend und versuchte den Pitzi seine Pfeile abzunehmen. Diese waren leider viel zu schnell für ihn: Sie flogen dicht an ihn heran, streckten ihm die Zunge raus und wedelten mit den Pfeilen vor seiner Nase herum, doch wenn er dann zupacken wollte, flogen sie blitzschnell davon und lachten ihn lauthals aus.
Unter anderen Umständen hätte wohl auch Ralea über Tajos wilde Luftsprünge lachen müssen, doch jetzt fuhr ihre Hand wie automatisch zu dem Elfenstein unter ihrem Leinenhemd – ein Glück, er war noch da! – und dann sprintete sie auf drei Pitzi zu, die ihren Lederbeutel in die Luft hoben und auf den Kopf stellten, sodass der gesamte Inhalt sich auf den Waldboden ergoss.
Als sie Ralea auf sich zu kommen sahen, wollten sie erschrocken davon fliegen, doch der Beutel war für drei so kleine Wesen ziemlich schwer und Ralea hatte das Überraschungsmoment auf ihrer Seite. Sie erwischte den Beutel an einer Ecke und riss ihn mit einem Ruck an sich. Die Pitzi drohten ihr mit ihren kleinen Fäusten und beschimpften sie in ihrer keckernden Sprache, doch Ralea beachtete sie nicht weiter. Sie bückte sich schnell und versuchte die Sachen wieder in den Beutel zu stecken. Bevor jedoch auch nur die Hälfte wieder sicher verstaut war, kamen andere Pitzi und schnappten die Lebensmittel weg.
Ralea richtete sich stöhnend auf und sah mutlos in die Luft, die voll von lachenden und rufenden Pitzi war. Sie saßen sogar auf den Bäumen und bewarfen sie und Tajo mit Vogelbeeren.
Tajo kam keuchend neben ihr zum Stehen. „Das hat keinen Zweck“, sagte er. Er hatte bloß drei seiner Pfeile retten können. „Lass uns einfach weitergehen und sie ignorieren. Irgendwann wird es ihnen langweilig, dann schmeißen sie die Sachen auf den Boden und hauen ab.“
Ralea nickte und drückte ihren Lederbeutel an die Brust. Würde sie ihn auf den Rücken ziehen, hätten die Pitzi ihn in kürzester Zeit erneut geplündert. So machten sie sich also wieder auf den Weg und gaben sich Mühe, die frechen Pitzi nicht zu beachten. Das war gar nicht so einfach, denn sie schwirrten überall um sie herum, die Luft war erfüllt von ihrem nervtötendem Stimmengewirr und sie rissen an Kleidern und Haaren.
Tajo ließ sich davon nicht beirren. Er ging einfach stur geradeaus und knurrte nur einmal leise: „Wie ich diese Nervensägen hasse!“ Ralea versuchte, es ihm gleichzutun und nach einer Weile bewahrheitete sich tatsächlich seine Vorhersage: Einer nach dem anderen ließen die Pitzi die Pfeile und das Essen fallen und schwirrten zurück in den Wald. Tajo und Ralea sammelten ihre Habseligkeiten auf, beide seufzten erleichtert auf und setzten ihren Weg nun ungestört fort.
Schon bald begannen sie wieder, sich gegenseitig Fragen zu stellen, und schließlich vertrieben sie sich die Zeit damit, sich gegenseitig Geschichten zu erzählen. Denn auch wenn Tajo sich vielleicht in vielerlei Hinsicht von seinen Artgenossen unterschied, so teilte er doch auf jeden Fall ihre Liebe zu Geschichten und Erzählungen. Er fragte Ralea nach ihrer Lieblingsgeschichte und sie erzählte ihm eine, die auch Morgana ihr früher immer und immer wieder hatte erzählen müssen.
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