1 ...7 8 9 11 12 13 ...20 Wie es Morganas Art war, redete sie nicht lange um den heißen Brei herum. „Ich denke, es ist am besten, wenn wir wieder unter zwei Augen miteinander reden, Ralea.“
„Ach, denkst du?“ Die Stimme von Raleas Mutter durchschnitt die Luft wie ein Peitschenhieb. „Ich denke, Merdrid und ich haben genau so ein Recht darauf zu hören, was du zu sagen hast.“ Sie sah Morgana mit zornesfunkelnden Augen an. „Es geht immerhin um unsere Tochter“, fügte sie noch hinzu.
Morgana hielt ihrem Blick mühelos stand. Ralea fand es ziemlich ungerecht von ihrer Mutter, dass sie der Geschichtenerzählerin scheinbar die Schuld für das Ganze gab. Doch diese nickte nur langsam und sagte ruhig: „Wahrscheinlich hast du recht. Verzeiht mir.“ Die Alte stützte sich schwer auf ihren Gehstock, während sie an den Tisch trat. Ralea sah, dass das an einem Beutel lag, den sie sich auf den Rücken gebunden hatte. Diesen stellte sie nun auf den Boden und ließ sich leise ächzend auf einen freien Stuhl fallen.
„Da ist dein Proviant drin“, erklärte sie auf Raleas neugierige Blicke hin, mit denen sie den ledernen Beutel taxiert hatte.
„Was denn für Proviant?“, fragte Ralea.
„Ein Laib Brot, Dörrfleisch, getrocknetes Obst, Gemüse und Wasser. Teil es dir gut ein. Das Wasser sollte reichen, bis du zum Fluss kommst. Dort kannst du dir die Flaschen neu auffüllen. Bedenke, dass dann der vermutlich schwierigste Teil deiner Reise kommt: die Drachentod-Wüste! Solange du kannst, solltest du dich im Wald von Beeren, Pilzen und Nüssen ernähren. Du weißt doch, was du essen darfst und was nicht?“
Ralea nickte. Selbstverständlich wusste sie das. Die Dorfkinder lernten schon früh, was giftig war und was nicht, um in der näheren Umgebung des Dorfes Beeren und Pilze zu sammeln.
„Das ist ja alles schön und gut“, sagte Raleas Mutter mit kritischer Miene, die genau das Gegenteil ihrer Worte zu sagen schien, „aber wie soll sie den Weg finden? Woher soll sie wissen, in welche Richtung sie gehen muss?“
Morgana nickte bedächtig. „Das wird kein Problem sein. Der Elfenstein wird ihr den Weg weisen.“
„Der Elfenstein?“ Nun war es Raleas Vater, der fragte. „Und wie wird er das machen?“
„Tut mir leid, aber das kann ich euch nicht beantworten. Ich weiß auch nur, was in dem Vertrag unserer Urahnen geschrieben steht.“ Raleas Mutter stieß missbilligend die Luft aus, doch Morgana ließ sich davon nicht aus der Ruhe bringen. Sie sah Ralea an und fragte: „Hast du noch Fragen, Kind?“
Ralea nickte. Und ob sie das hatte! „Wie soll ich Luramos einschläfern? In der Geschichte wird gesagt, dass Koras magische Worte spricht, um den Drachen zu verzaubern.“ Ralea dachte auch an die detailliertere Version der Geschichte, die Morgana erzählt hatte. Dabei hatte sie den Kampf mit dem Drachen und Koras’ mutige Heldentat ganz genau beschrieben. Wenigstens würde Luramos noch schlafen, wenn sie zu ihm kommen würde. Sie brauchte nur den Zauber wieder aufzufrischen. Es sei denn, der Zauber verlor früher als gedacht seine Wirkung ... doch daran wollte sie lieber nicht denken.
Morgana nickte wieder und antwortete: „In dem Vertrag, den die drei Völker Romaniens nach dem Sieg über Luramos verfasst haben, steht geschrieben, dass der Stein nur an die Schläfe des Drachen gehalten werden muss. Die Magie in ihm wird wissen, was zu tun ist, da der Stein seinen eigenen Zauber erkennen wird.“
Ralea unterdrückte ein Schaudern. Ihr Unwohlsein lag nicht nur daran, dass sie dem Drachen also verdammt nahe kommen musste. Morganas Worte erinnerten sie auch an ihre Überlegungen von vorhin, ob der Stein wohl denken und handeln konnte wie ein selbstständiges Wesen.
„Da ist noch etwas Wichtiges“, sagte Morgana. „Luramos liegt in einer Höhle, die Bestandteil einer Felsformation ist. Merke dir genau den Weg, wie du zu der Höhle gekommen bist, damit du auch wieder herausfindest.“
„Moment mal! Hast du nicht eben noch gesagt, der Elfenstein würde Ralea führen?!“, rief Raleas Mutter alarmiert.
„Ich war ja auch noch nicht fertig.“ Morgana sah unverwandt Ralea an, der ein wenig mulmig wurde unter dem eindringlichen Blick ihrer klugen Augen. „Der Elfenstein wird dich hinführen, doch nach dem Zauber ist seine Magie verbraucht. Es steht zwar nichts davon in dem Vertrag, doch wir müssen damit rechnen, dass er dich dann nicht mehr führen kann. Du musst also allein wieder dort herausfinden und dich dann immer nach Süden halten. Meinst du, du schaffst das?“
Ralea nickte und rief sich den Kinderreim wieder ins Gedächtnis, den ihr Vater ihr vor Jahren einmal beigebracht hatte: „Im Osten geht die Sonne auf, im Süden nimmt sie ihren Lauf, im Westen wird sie untergeh’n, im Norden wird sie nie gesehen.“ Da bei ihnen im Dorf und noch dazu mitten im Wald nie die Notwendigkeit bestand, die Himmelsrichtungen zu kennen, bereitete ihr das Ganze etwas Bauchschmerzen, doch sie traute sich das durchaus zu. Was blieb ihr auch anderes übrig?
„Und im Wald?“, fragte ihre Mutter, bestrebt einen schwachen Punkt in der Planung zu finden. „Wie findet sie allein durch den Wald?“
„Sie wird nicht allein durch den Wald finden müssen. Nachdem ihre Aufgabe erfüllt ist, besteht nicht mehr die Notwendigkeit, dass sie allein reisen muss – so wie der Vertrag es vorschreibt. Die Baumlinge werden an der Grenze des Waldes zahlreiche Späher aufstellen, die sie empfangen und sicher nach Hause bringen werden.“
Ralea konnte sich denken, dass ihre Mutter nicht begeistert von dieser Vorstellung war. Zwar entsprach die Geschichte von dem gemeinsamen Sieg, dem Vertrag und der Freundschaft der drei Völker Romaniens der Wahrheit, doch waren dreihundert Jahre eine lange Zeit ... In den vielen Jahren hatten sich alte Vorurteile über die Baumlinge und die Elfen längst wieder in den Köpfen der Menschen festgesetzt.
So galten Baumlinge als wild und unzivilisiert und viele missbilligten ihre Art zu leben – wohlgemerkt, ohne wirklich zu wissen, wie sie lebten. Es war wenig bekannt über die Baumlinge, außer dass sie in den Wäldern hausten und gute Jäger waren. Ralea hatte erst selten welche zu Gesicht bekommen – sie machten manchmal Tauschgeschäfte mit den Menschen – doch sie hatte noch nie ein Wort mit einem von ihnen gewechselt. Trotzdem fand sie die Vorstellung wenigstens auf dem Rückweg eine Begleitung und Führer zu haben, sehr beruhigend.
Morgana öffnete den Beutel, der immer noch neben dem Tisch stand, und förderte ein paar Lederstiefel zutage. „Die hier hatte der Schuster eigentlich für seinen Sohn gemacht, doch er hat sich bereit erklärt, sie dir zu überlassen.“ Sie schob sie Ralea zu, die überrascht die Augenbrauen hochzog. „Du wirst festes Schuhwerk brauchen“, erklärte Morgana auf Raleas ungläubigen Gesichtsausdruck hin.
„Nein, das ist es nicht, was mich so überrascht.“ Ralea rutschte unbehaglich auf ihrem Stuhl hin und her. „Mich wundert bloß, dass der Schuster ... na ja, gestern sah es so aus, als würden mich alle Leute hassen ...“
„Oh, sie hassen dich nicht!“, sagte Morgana schnell. „Tatsächlich aber gibt es viele, die deinen Fähigkeiten misstrauen und eine erneute Wahl fordern. Andere behaupten, dass ein Mädchen dieser wichtigen Aufgabe nicht gewachsen ist. Doch ich habe mit ihnen geredet und konnte die meisten davon überzeugen, hinzunehmen, dass du die einzig mögliche Wahl bist und dass sie dich lieber unterstützen sollten.“
„Wirklich?“ Sofort fühlte sich Ralea ein ganzes Stück besser.
„Nun probier sie aber mal an. Es müsste ungefähr deine Größe sein.“ Morgana schob ihr die Stiefel über den Tisch zu und Ralea zog sie sogleich an. Tatsächlich passten sie erstaunlich gut. Man hätte sogar meinen können, sie wären eigens für sie angefertigt worden.
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