1 ...6 7 8 10 11 12 ...20 Zielstrebig streifte sie sich die Silberkette, die an dem Stein befestigt war, um den Hals. Nun wusste sie ganz genau, was sie zu tun hatte. Warum hatte sie nur so lange gezögert? Es war ihre Bestimmung dem Wohl Romaniens zu dienen und seine Bewohner zu retten. Sie sollte stolz sein auf diese Ehre! Ralea hatte zwar keine Ahnung, woher diese plötzliche Zuversicht kam, doch machte sie sich auch keine Gedanken darüber. Es fühlte sich viel zu gut an, zu wissen, was zu tun war.
Und das wusste sie nun. Sie würde durch Romanien reisen, Luramos finden und den Zauber erneuern. Sie würde ihre Mission zu einem glücklichen Ende bringen und ruhmreich nach Hause zurückkehren! Entschlossen stand sie von der Strohmatte auf, durchschritt den Raum und öffnete die Tür. Dahinter befand sich eine kleine Schlafkammer, fast schon zu eng für die Leute, die hier saßen und sie nun überrascht ansahen. Ralea ... und den Elfenstein, der um ihren Hals hing und immer noch in seinem blauen Licht erstrahlte.
Ralea schenkte den fragenden Blicken, die auf ihr ruhten, keine Beachtung. Sie sah nur Morgana an, deren Miene mal wieder nicht preisgab, was in ihr vorging, und sagte mit fester Stimme: „Ich habe mich entschieden!“
*
Ralea lag auf ihrem Bett und starrte an die Decke. Sie schlief über dem Zimmer ihrer Eltern in einem kleinen Raum direkt unter dem Dach. Durch ein kleines rundes Fenster fiel das erste Tageslicht auf sie und die Wand neben ihr. Sie hatte keine Ahnung, wie lange sie jetzt schon unbeweglich dalag und an die Dachbalken über ihr starrte. Sie wusste, dass sie schon längst hätte aufstehen müssen. Morgana hatte an Tag zuvor noch angekündigt, dass sie am nächsten Morgen vorbeikommen wollte, um ein paar wichtige Sachen für ihre Reise mit ihr zu besprechen, und sie konnte jeden Augenblick auftauchen. Doch trotzdem – oder gerade deswegen – konnte Ralea sich nicht dazu aufraffen, sich auch nur irgendwie zu bewegen.
Solange sie einfach nur hier lag und so tat, als schliefe sie, konnte sie die Gedanken an ihre Reise und den ganzen Rest in den hintersten Winkel ihres Kopfes verbannen und so tun, als wäre das ein ganz normaler Morgen wie jeder andere auch. Doch ganz verdrängen ließen sich die Gedanken natürlich nicht. Vor allem die Gesichter der Leute gingen ihr einfach nicht mehr aus dem Kopf. Als sie am Abend nach ihrer Entscheidung aus dem Haus getreten war, hatte sich die Kunde über Raleas Auftrag schon überall herumgesprochen und in der Stadt hatten sich alle Bewohner darüber unterhalten.
Leider hatte Ralea nicht mehr als einzelne Worte aufschnappen können, denn sobald die Menschen sie bemerkt hatten, waren sie verstummt und hatten sie und den leuchtenden Elfenstein an ihrer Brust anklagend angeschaut. Anklagend – das war das richtige Wort. Anklagend, misstrauisch und oft auch beunruhigt. Ralea konnte sich natürlich denken, was in ihren Köpfen vorging. Wahrscheinlich dachten sie, sie hätte die Versammlung in irgendeiner Weise manipuliert, um gewählt zu werden. Was für ein Irrsinn! Wie hätte sie das denn anstellen sollen? Und warum? Sie würde liebend gerne mit diesen Menschen tauschen, wenn sie ihr dann glauben und ihre Aufgabe übernehmen würden!
Aber fast noch schlimmer war, dass ihr das alles erst jetzt klar wurde. Am Vortag hatte sie die Blicke und das Flüstern zwar wahrgenommen, doch sie hatte sich nicht darum gekümmert. Sie war so berauscht gewesen von ihrem Glücksgefühl, dass es überhaupt nicht richtig bis in ihr Bewusstsein gedrungen war. Doch wo war dieses Glücksgefühl jetzt? Die Zuversicht, die sie gestern noch verspürt hatte, war verschwunden und hatte nur einen schalen Nachgeschmack hinterlassen.
Ralea griff unter ihr Leinenhemd und holte den Elfenstein hervor, den sie die ganze Nacht über um den Hals getragen hatte. Jetzt leuchtete er zwar nicht mehr, doch war sein Blau trotzdem immer noch wunderschön.
War er etwa verantwortlich für ihre gestrige Gehirnwäsche? Denn nichts anderes war es doch gewesen! Auf einmal hatte er sein merkwürdiges Licht verstrahlt und sie war felsenfest davon überzeugt gewesen, dass sie diese Reise antreten musste. Doch andererseits war es immer noch ein Stein. Natürlich kein gewöhnlicher, aber trotzdem konnte er doch gewiss nicht selbstständig denken oder handeln. Vielleicht war es einfach die in ihm gespeicherte Elfenmagie, die ihr nicht bekam.
Doch warum legte sie ihn dann – jetzt, wo ihr dies alles klar geworden war – immer noch nicht ab?
Ein kalter Schauder lief ihr den Rücken hinab, sie steckte den Elfenstein wieder unter ihr Hemd und stand auf, um nicht länger darüber grübeln zu müssen. Das half nun schließlich sowieso nichts mehr. Ihre Entscheidung war gefallen. Ihr Vater war überglücklich gewesen und selbst die misstrauischen Mienen der anderen Leute hatten ihn nicht davon abbringen können, stolz zu grinsen und ihr auf dem Nachhauseweg einen Arm um die Schultern zu legen.
Er hatte es ihr gegenüber nie erwähnt und sich bemüht, es sie nicht spüren zu lassen, doch Ralea wusste, dass er sich insgeheim immer einen Sohn gewünscht hatte. Nach ihrer Geburt war ihre Mutter noch viele Male schwanger gewesen, doch hatte sie jedes Mal eine Fehlgeburt gehabt. Das hatte ihre Eltern stark mitgenommen und ohne ihre Tochter wären sie wahrscheinlich daran zugrunde gegangen. So bemühten sie sich umso mehr, Ralea ein glückliches Leben bereiten zu können, und sie von ganzem Herzen zu lieben. Aber trotzdem hatte Ralea immer das Gefühl gehabt, sie müsse so gut wie drei Kinder auf einmal sein. Als sie jetzt die Freude und den Stolz ihres Vaters gesehen hatte, glaubte sie zum ersten Mal, dass es ihr vielleicht sogar gelungen war. Dass sie vielleicht genau so gut war wie der Sohn, den sich er sich immer gewünscht hatte. Ralea klammerte sich an diesen Gedanken, als sie die Tür öffnete und langsam die knarrenden Stufen der schmalen Treppe nach unten stieg.
Dumm nur, dass ihre Mutter völlig anders reagiert hatte als ihr Vater. Sie hatte Ralea fassungslos angesehen und ihre Augen hatten geglänzt vor zurückgehaltenen Tränen. Unter dem Einfluss der Elfenmagie hatte Ralea keinen Blick dafür gehabt, doch nun plagten sie schreckliche Schuldgefühle und Gewissensbisse. Wie gern würde sie ihr die Wahrheit sagen: Dass sie sich dieser Aufgabe nicht gewachsen fühlte und schreckliche Angst hatte fortzugehen. Doch was würde das bringen? Es würde alles nur noch schlimmer, nur noch schwerer machen.
Als sie am Fuß der Treppe angelangt war, stand sie in einem einfachen Raum, der als Küche und Wohnzimmer diente. Ihre Eltern saßen am Tisch und schienen sich eben noch angeregt unterhalten zu haben. Nun blickten sie jedoch Ralea an und ihre Mutter sagte: „Guten Morgen, Schatz. Hast du Hunger?“ Ralea schüttelte den Kopf und setzte sich zu ihnen. Sie sahen beide müde und erschöpft aus. Wahrscheinlich hatten sie am Abend noch lange diskutiert. Sie meinte sogar, dass ihr Vater gar nicht mehr so zuversichtlich aussah, wie gestern noch. Doch darüber wollte sie lieber nicht nachdenken.
Ihre Mutter gab den Versuch nicht auf so zu tun, als wäre das ein ganz normaler Tag. „Wie hast du geschlafen?“, fragte sie.
„Ganz gut“, antwortete Ralea. Das war die Wahrheit, doch nun fühlte sie sich fast ein bisschen schuldig deswegen, da ihre Eltern wahrscheinlich nicht viel Schlaf bekommen hatten. Gerade wollte ihre Mutter noch etwas sagen, da klopfte es an der Tür. Das Lächeln, das sie bis dahin so tapfer aufrecht erhalten hatte, verrutschte nun vollends zu einer Grimasse. Ralea konnte förmlich sehen, wie ihre Mutter ihre vergeblichen Bemühungen aufgab, als Morgana ungebeten den Raum betrat.
Die alte Frau nickte ihnen höflich zu und schloss die Tür hinter sich. Raleas Vater murmelte einen Gruß, doch ihre Mutter presste nur die Lippen aufeinander und schaute auf ihre Hände.
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