Heute, es war Freitag, hatte er also Geburtstag und endlich ein Fahrrad, und zu diesem Festtag hatte er sich sein schönstes Gewand und ein weißes Hemd angezogen. Das für seine fünfundzwanzig Jahre schon viel zu faltige Gesicht war rasiert. Man konnte die noch immer etwas blutigen Scharten der Rasierklinge sehen sowie Reste von Rasierschaum an Hals, Ohren und unter den Nasenflügeln. Aus den Nasenlöchern standen borstige Haare heraus. Die wirren braunen Haare am Kopf, die sehr füllig und widerspenstig waren, versuchte er mit Haarfett und Brillantine nach hinten zu glätten.
Heute wollte Adi besonders gut und interessant aussehen, denn er wollte mit dem neuen Rad auch zur Rosl fahren, um ihr stolz seine neuste Errungenschaft zu zeigen. Zur Rosl hatte er schon seit längerem Zutrauen gefunden. Jedes Mal wenn sie mit ihm sprach, überkam ihn ein erregtes Zittern, und wenn niemand es sah, durfte er ihr sogar an die Brust greifen und streicheln. Sie lachte dabei und sagte immer wieder: „Hör auf, hör auf!“, weggegangen aber ist sie nie. Und heute sollte sie das selbst zusammengebaute, fertige Fahrrad sehen. Alles war dran an dem Rad: Glocke, Licht, Dynamo und Fahrradpumpe. Nur die Rückradbremse funktionierte noch nicht; lediglich die vordere Handbremse war angebracht und tat ihren Dienst. Ganz aufgeregt trat Adi in die Pedale und radelte zu der Wiese, wo er Rosl vermutete. Grade heute war sie nicht da.
Er fuhr in das nächste Dorf. Unser Hundertseelendorf. Dort standen die Dorfbuben zu dritt vor der kleinen Kapelle in romanischem Stil und warfen einen zerlumpten alten Fußball hin und her. Erst schleuderten sie ihn gegen die Stirnmauer der Kapelle, wobei sie versuchten, das oberste Fenster zu treffen, vor dem ein leicht verrostetes gusseisernes Kreuz hing. Als ihnen das nicht gelang, warfen sie sich den Fetzenball gegenseitig an den Kopf. Als sie den blöden Adi sahen, hatten sie die Idee, mit ihm heute irgendetwas Lustig-Böses zu machen.
„Wohin fährst du?“, fragten sie ihn. „Dat it meine Tate“, gab er laut und schwerverständlich zurück. Obwohl er sie nicht leiden konnte, wollte er doch sein neues Rad herzeigen. Der eine, der mit der engen Röhrlhose, nahm ihm das Rad weg und fuhr damit um die Kapelle herum, dabei bemerkte er, dass die Rücktrittbremse nicht funktionierte. „Wieso geht deine hintere Bremse nicht?“, fragte er Adi. „Dat it meine Tate“, antwortete Adi.
Die Burschen wollten heute ihre Gaudi mit dem Adi haben. Sie liefen die Straße hinunter, taten so, als würden sie mit aller Kraft rennen, und heizten Adi an, indem sie riefen, sie seien schneller als er mit seinem Rad. Adi wollte sich das nicht gefallen lassen. Schweißperlen rannen ihm von der Stirn und sein neues schönes weißes Hemd war bald mit vielen nassen Schweißflecken übersät. Er trat mit Wucht in die Pedale und fuhr so schnell wie möglich an den Buben vorbei. Als er ein enormes Tempo erreicht hatte, steckte ihm der Rothaarige mit den vielen Sommersprossen im Gesicht und dem bösen, hinterhältigen Lachen, das sich anhörte wie das Grunzen eines Schweins, einen der Holzstöcke, die sie bei sich hatten, zwischen die Speichen des Vorderrades. Das Rad mit dem Adi überschlug sich und Adi stürzte, blutete an Ellbogen und Kopf.
Er stand auf, nahm das stark verbogene Rad zwischen seine Beine, richtete es mit Berserkerkraft wieder einigermaßen gerade, stieg trotz der Wunden wieder auf sein neues, nun etwas verbogenes Fahrrad, wobei ihm das Blut von den Ellbogen über den Unterarm bis zur Lenkstange hinunterfloss, und fuhr, ohne sich auf den Sattel zu setzen, in hohem Tempo weiter im Kreis um die Kapelle und die Buben herum. Einer der Dorfbuben – der etwas Kleinere mit dem bereits starken Bartflaum an Oberlippe und Kinn; mit seinem pechschwarzen Haar und den funkelnden dunklen Augen sah er aus wie ein Zigeuner – nahm wieder den Holzstock, steckte ihn dem vorbeifahrenden Adi jetzt zwischen die Speichen des Hinterrades, und Adi schlug erneut mit Gesicht und Körper seitwärts auf dem Boden auf. Diesmal war das Rad nur leicht demoliert und Adi brachte es mit einem kurzen kräftigen Ruck wieder in Form.
Dieses böse Spiel reizen sie aus, das Gegröle und die Bösartigkeiten werden immer schrecklicher. Am Anger entlang des Flusses treiben sie ihr Spiel, bis Adi wütend das Tempo so stark erhöht, dass sie nicht mehr folgen können. In höllischer Geschwindigkeit rast er dicht am Ufer einher, rutscht mit dem Vorderrad ab, die Böschung hinunter. Wie nun das Wasser bedrohlich näher kommt, will er bremsen und stemmt den Fuß ins Pedal, der Rücktritt geht aber nicht, das hat er vergessen. In seiner Verzweiflung drückt er mit ganzer Kraft auf den an der rechten Seite der Lenkstange befestigten Hebel der Vorderbremse. Das Vorderrad blockiert, er überschlägt sich und fliegt mit voller Wucht in den Fluss; das Rad auf ihn drauf.
Das Fahrrad sank immer tiefer in das träge dahinfließende Wasser hinab. Das Wasser verfärbte sich mit rötlichen Schlieren.
Sie ballte die Hände und dankte dem barmherzigen Himmelvater
Auf das schwere Gewitter am Ende eines warmen, etwas schwülen Sommertages folgte starker, gussartiger Regen. Georg, der vielleicht vierundzwanzigjährige ältere Sohn von Frau Millinger, stand, nur mit einer kurzen schwarz-glänzenden, modischen Klothhose bekleidet – eine Art Turnhose, die wir „Glatthose“ nannten – unter der Traufe am Ende der Dachrinne im Hof. Eine Naturdusche. Dem drahtigen, groß gewachsenen Burschen machte es richtig Freude, vom Scheitel bis zur Fußsohle durchwässert zu werden. Bei den trotz des heftigen Regens noch hohen Temperaturen tat so ein erfrischendes Duschbad einfach gut. Das Wasser ergoss sich wie ein Gebirgsbach auf seine breiten Schultern, den stählernen Rücken und über die glatte, unbehaarte Brust des jungen Mannes. Wahrlich ein Adonis.
Trotz seines beeindruckenden Aussehens fand der sehr wortkarge Bursch lange kein weibliches Wesen, das mit ihm zusammen sein wollte. Selbst in Gegenwart der schönsten Mädchen und Frauen, die ihm bei der Feldarbeit und im Dorf begegneten und zu Hilfe waren, veränderte er nie den versteinerten, starren Ausdruck seines leicht pockennarbigen Gesichts. Erst viele Jahre später begegnete ihm seine Liebe in Gestalt von Theresa: ein hübsches blondes, mit feinen Zügen ausgestattetes Stadtmädel. Wenn sie lachte, erinnerte sie an die bayrische Prinzessin Sissi, die spätere Braut von Kaiser Franz Joseph. Theresa ging von Haus zu Haus, um den Bauern Mastfuttermittel für Schweine und Hühner zu verkaufen. Als sie auf Georg traf, war es das, was man „Liebe auf den ersten Blick“ nennt. Böse Zungen nannten es auch den „letzten Ausweg“. Alles Gerede im Dorf drehte sich lange Zeit nur um diese Verbindung. Manche hielten die Theresa für eine Dahergelaufene, andere wiederum für eine Erbschleicherin. Der Dorftratsch in der goldenen Abendsonne auf den Bänken vor den Häusern fand hier für lange Zeit reichlich Nahrung. Man ließ kein gutes Haar an dieser wunderhübschen und, wie sich schließlich herausstellte, auch sehr tüchtigen und begabten Person.
Wenn Georg in seinen langen Junggesellenjahren auf einige Tage nach Sankt Pölten fuhr, um seinen jüngeren Bruder Stefan zu besuchen, der längst ausgezogen war und dort im Kolpinghaus wohnte, einem von Adolf Kolping gegründeten Gesellenhaus, durfte ich manchmal über Nacht bei Frau Millinger bleiben, deren Haus gegenüber von dem unseren lag. Sie war Witwe, seit ihr Mann eines Tages nicht mehr aus dem Weinkeller zurückgekommen war.
Eineinhalb Hektar Weingärten hatte der Millinger gehabt. Nachdem er im Herbst, wie jedes Jahr, die Trauben eingebracht, sie zu Maische und Most verarbeitet und den süßen Saft in die Eichenfässer abgefüllt hatte, war er jeden Tag in das Kellergewölbe gegangen, um den Fortschritt der Gärung zu überprüfen, bis ihm nach etwa sechs bis sieben Tagen das bei der Gärung des Mosts entstehende Kohlendioxid zum Verhängnis wurde; die Konzentration des Gases im Kellergewölbe war zu hoch geworden, es lähmte ihm bei einem seiner Kontrollgänge die Atemwege. Er wurde bewusstlos, fiel um und versuchte sich im Fallen noch an den Dauben des großen Fasses festzuhalten, doch rutschte er ab und schlug mit dem Kopf auf den Betonsockel unter den Fässern auf, was dazu führte, dass ein Blutgefäß in seinem Schädelinneren barst und sich ein subdurales Hämatom bildete, das ihm zusammen mit der unten am Boden besonders hohen Kohlendioxidkonzentration den Tod brachte.
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