Als seine Frau ihn nach Stunden endlich suchen kam, konnte sie, den blutigen Kopf über kalten Lehmboden schleifend, nur noch an beiden Beinen die Leiche ihres Mannes aus dem Keller ziehen. Wie so oft wollte ich sie gerade besuchen, hörte ihre verzweifelten Hilferufe und riss gleich beide Kellertüren auf, damit das geruchlose, aber tödliche Gas entweichen konnte und die schon hin und her taumelnde Frau nicht ebenfalls den grausamen Erstickungstod erlitt.
Von dem Tag an, den sie als eine schwere Prüfung Gottes ansah, machte sie sich beständig Vorwürfe, sich um ihren Mann nicht genug gekümmert und ihn dann zu lange an den falschen Orten gesucht zu haben. Sie betete viel und ihre Gebete wurden täglich länger. Jeden Morgen schon um vier Uhr früh kniete sie vor ihrem Herrgottswinkel, manchmal auf einem Kissen oder an manchen Tagen auch auf einem harten Fichtenholzscheit, und betete den schmerzensreichen Rosenkranz. Je mehr ihr die Knie schmerzten und wund waren, desto mehr Erleichterung fühlte sie. Der Tod ihres Mannes lastete als große Schuld auf ihren Schultern.
Selbst noch Jahrzehnte später – so hat es mir ihre Tochter Vroni erzählt –, als sie in hohem Greisenalter auf dem Sterbebett lag, versuchte sie mit größter Anstrengung, die mit einem schwarzen Rosenkranz umwickelten dürren und abgemagerten Hände zum Gebet zu falten, und presste, nachdem sie doch schon tagelang nicht mehr gesprochen hatte, noch in ihrer Todesstunde mit letzter Kraft die flehenden Bittworte „Liaba Himmevotter, ned owischtessn ind Höll“ aus ihrem Mund, was etwa so viel heißen sollte wie: Lieber Herrgott, stoße mich wegen meines Vergehens nicht in die Hölle hinab. Ihre beiden nun auch schon recht betagten Töchter – die einst, als kleine Kinder, den zwischen Bett und Sessel gefallenen beinlosen alten Schickler in sein durchgelegenes Bettloch zurückgewälzt hatten – standen am Kopfteil des Bettes, Vroni auf der linken Seite und Else auf der rechten, beteten den glorreichen Rosenkranz und wischten ihr die dicken Schweißperlen von der Stirn. Der herbeigerufene Pfarrer gab ihr die Letzte Ölung. Nach einer Dreiviertelstunde gemeinsamen Gebets seufzte die greise Frau Millinger zwei- oder dreimal tief, die dürren Hände mit dem schwarzen Rosenkranz verkrampften sich für einen kurzen Moment, aber wurden gleich wieder locker, dann fiel ihr der Kopf auf die rechte Seite und sie hauchte ihren letzten Atem aus.
Diese praktizierende erzkatholische Christin hat mir in meinem Leben unbewusst einige Richtlinien aufgezeigt. Im Gegensatz zu manch anderen Dorfbewohnern, die mehr Scheinheilige als Tiefgläubige waren, hatte sie einen ehrlichen inneren Strahlenkranz. Ihr Gesicht und ihr Wesen waren von unglaublicher Gutmütigkeit. So empfand ich es jedenfalls damals. Ihre Sprache war wie die Sprache der anderen im Dorf, und doch eine ganz andere, vertrauensvollere.
Wenn nun also ihr noch auf Jahre unverheirateter Sohn Georg auf einige Tage nach Sankt Pölten fuhr, um seinen Bruder Stefan zu besuchen, durfte ich manchmal im Kabinett, dem alten Zimmer von Stefan, übernachten. Diese Abende und Nächte liebte ich. Viele meiner Schulfreunde waren in den Ferien verreist. Ich war nie verreist. Für mich waren die Nächte im Haus gegenüber bei den Millingers Ferien. Weg von zu Hause. Keine Drohungen, kein Geschrei und keine Schläge vonseiten des ungeliebten Stiefvaters. Wenn ich damals überhaupt Glück kannte, dann in solchen Momenten. Vielleicht war das Glück dieser Momente eine Belohnung von unserem Herrgott für all die viele Schmach, die ich zu Hause zu ertragen hatte.
Vor dem Schlafengehen gab es in der Küche von Frau Millinger Milchsuppe mit Hasenbrot. So nannte man das im Feld nicht verzehrte und wieder mit nach Hause gebrachte, nun leicht angetrocknete Brot. Während der Arbeit der Bauern auf dem Feld lag dieses Brot in Leinen- oder Jutetaschen unbeachtet neben der Jausenhütte, wo es von den herumhüpfenden Feldhasen beschnuppert wurde. Vor dem Nachtmahl sprachen wir immer ein Tischgebet, das schenkte eine reine, neugeborene Seele. Auf alle meine Fragen bekam ich von Frau Millinger stets freundliche Antworten – anders als zu Hause.
Manchmal kam auch die alte Mariedl zum Nachtmahl. Sie wohnte gegenüber allein, in dem kleinen Zweizimmerhaus in der Kellergasse. Auf der linken Seite ihres Rückens hatte sie einen Buckel. Als sie noch ein Kleinkind gewesen sei, so erzählte sie, habe ihr Großvater sie beim Spielen vom Heuwagen gestoßen, dabei brach sie sich das linke Schulterblatt. Der großen Schmerzen wegen konnte sie fortan nicht mehr oder nur mit größter Mühe gerade sitzen. Der Lehrer in der Schule habe sie immer wieder ermahnt: „Mariedl, sitz gerade und nicht so krumm.“ Doch sobald sie sich unbeobachtet wähnte, setzte sie sich wieder ganz krumm, zur Linderung der Schmerzen, und so verwuchsen die gebrochenen Knochen im Laufe der Jahre zu einem Buckel. Der Buckel ließ sie schrumpfen, kleiner und schmächtiger werden. Die in ihrer Jugend blonden Haare, die sie zu einem Knoten gebunden trug, waren längst grau, stumpf und schütter geworden. Zu ihrem Buckel auf der linken Seite war später noch eine ganzseitige Lähmung der rechten Körperhälfte hinzugekommen. Seitdem konnte sie sich nur noch mühevoll fortbewegen und war auf nachbarschaftliche Hilfe angewiesen. Es wurde nicht besser, eher schlechter. Dr. Meinrath sagte, ein Pflegeheim wäre für die alleinstehende Frau das Beste.
In ihrer Verzweiflung begann die tiefreligiöse Katholikin eine Novene zum barmherzigen Gott zu beten. Neun Tage lang – daher der Name Novene – betete sie, morgens, mittags, abends, nachts. Wenn sie mich durch die Kellergasse gehen sah, rief sie: „Komm herein zu mir und bete mit mir, wenn wir beide beten, dann hilft’s mehr.“ Ich ging jedes Mal hinein in die kleine dunkle, nach Lavendelkissen und Medizin riechende Kammer, kniete mich in die Ecke, schaute auf das Kruzifix und dachte dabei an meine Mutter, die, so wie ich, unter ihrem Mann, meinem Stiefvater, schwer zu leiden hatte. Erst beteten wir ein Vaterunser und drei der Geheimnisse des glorreichen Rosenkranzes, dann sprachen wir Gebete an den barmherzigen Gott und zum Schluss folgten noch die restlichen zwei Geheimnisse des glorreichen Rosenkranzes.
Selbst mitten in der Nacht stellte Mariedl ihren laut tickenden, großen runden weißen Junghans-Wecker mit den phosphoreszierenden Leuchtziffern und der verchromten schrillen Weckglocke, um auch des Nachts das Beten nicht zu vergessen. Einmal pro Stunde klingelte er, um sie zu wecken, damit sie beten konnte. Wenn ihre Müdigkeit übergroß wurde, stellte sie den Wecker in einen blau-weiß emaillierten Blechteller und legte zusätzlich metallenes Essbesteck hinein, damit es noch lauter rasselte und schepperte und sie nur ja ihre Gebetszeit nicht verschlief.
Auf beiden Seiten des Weckers stand je ein Votivbild aus der Wallfahrtskirche Mariazell: links die Muttergottes mit dem toten Sohn auf dem Schoß und rechts der kreuztragende, dornengekrönte Christus. Wenn sie nicht im Bett betete, lehnte sie sich mit der nicht gelähmten, buckeligen linken Körperhälfte gegen die Wand, um unter enormen Schmerzen zum Kruzifix in der Küchenecke zu beten. Tag für Tag, Nacht für Nacht betete sie. Stunde für Stunde. Am neunten, dem letzten Tag der Novene versuchte sie wie jeden Tag, den gelähmten Arm oder das gelähmte Bein zu bewegen. Wieder und wieder versuchte sie es. Nichts ging. Doch auf einmal, beim allerletzten Versuch, konnte sie die beiden rechten, äußeren Zehen des rechten, gelähmten Fußes plötzlich doch ein klein wenig auf und ab bewegen. Zum ersten Mal seit einem Jahr. Mariedl konnte es nicht glauben. Als sie begriff, was geschehen war, flossen ihr die Tränen aus den Augen. Sie ballte die Hände mit aller Kraft zusammen und schrie, indem sie abwechselnd auf das Kreuz und hoch zum Plafond gen Himmel schaute: „Du lieber, barmherziger Himmelvater, danke, dass du mich nicht vergessen und nicht verlassen hast!“
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