Von seinem 14. Geburtstag an, ab März 1917 also, besucht Jochen Klepper das Evangelisch-Humanistische Gymnasium in Glogau. Damit endet ziemlich abrupt die Fixierung auf Vater und Mutter und das Leben im Pfarrhaus, das er viele Jahre später als »Höhepunkt meiner Familiengeschichte« bezeichnet. 5Zusammen mit seinem Freund Seth Demel, dem Sohn des Arztes der Familie, kommt er in die Untertertia (8. Klasse). Zunächst pendeln die beiden täglich. Mit dem Zug sind es von Beuthen nach Glogau nur vier Stationen, eine knappe halbe Stunde dauert die Fahrt.
Glogau ist Garnisons- und Kreisstadt, alles dort ist zwei Nummern größer als in Beuthen. Es gibt ein königliches Schloss mit Schlossgarten, ein Landgericht und eine Militärakademie, gleich mehrere Exerzier- und Truppenübungsplätze und eine ausgedehnte Parkanlage außerhalb der ehemaligen Schanzwerke. Die Stadt beherbergt neben dem evangelischen auch ein katholisches Gymnasium und eine höhere Mädchenschule. Außer dem katholischen Mariendom in der Vorstadt jenseits der Oder gibt es zwei weitere katholische Kirchen, drei evangelische Kirchen und zwei Synagogen. Der alte und der neue Hafen, der Bahnhof und die Eisenbahn-Werkstätten: Glogau ist wahrlich keine Metropole, macht aber doch deutlich mehr her und hat einem Gymnasiasten auch mehr zu bieten als das beschauliche Heimatstädtchen.
»In seinem Matrosenanzug wie aus dem Ei gepellt, peinlich sauber und adrett« 6– und still: so erinnert sich ein Schulkamerad an Jochen Kleppers ersten Auftritt in der Untertertia am Evangelischen Gymnasium. »Mit einem Gesicht wie ein Asket, hager und kränklich ... Klepper blickte uns ernst und gesammelt aus großen, fast schwermütigen Augen entgegen ... weltfern ... eigenartig.« Auch Jochen Kleppers Freund Seth Demel ist eher von zarter, introvertierter Natur; die beiden bleiben in der Klasse für sich. Wenig hilfreich ist der Umstand, dass Jochens körperliche Konstitution nach wie vor wackelig ist. Vom Sommerhalbjahr verpasst er einen guten Teil krankheitshalber, und deshalb ist auch mit dem täglichen Pendeln bald Schluss – zumindest in seinem Fall.
Vermutlich zum Winterhalbjahr 1917 wird Jochen bei seinem Französischlehrer Erich Fromm einquartiert, einem Freund der Familie und besonders seines Vaters. Fromm ist zu dem Zeitpunkt etwa dreißig Jahre alt und selbst Sohn eines Pfarrers. Ein gelehrtes Haus, ein strammer Patriot (und Antisemit, aber das wird erst später deutlich hervortreten), belesen und begeistert von der klassischen Kultur. Er nimmt den Halbwüchsigen unter seine Fittiche und wird für die kommenden Jahre zu seiner wichtigsten Bezugsperson. Gibt ihm das Gefühl, ernst genommen zu werden, sicher nicht nur als Gesprächspartner auf dem Pausenhof, wo Jochen mit Erich Fromm »französisch parlierte oder irgendein Thema über Literatur abhandelte«. Der Mentor prägt zweifellos auch Jochen Kleppers Vorstellungen von Männerfreundschaft, Ehrgefühl, männlichem Auftreten. Hat also einen erheblichen Einfluss.
Das Verhältnis ist natürlich nicht symmetrisch. Der junge Jochen Klepper ist der Schutzbefohlene, ist Schüler, ist abhängig, und es deutet einiges darauf hin, dass der Lehrer und väterliche Freund diese Abhängigkeit irgendwann ausgenutzt hat. Die Beziehung bekommt eine homoerotische Note. Ob Erich Fromm tatsächlich übergriffig geworden ist, wie Martin Wecht in seiner gründlichen Biografie vermutet 7, das lässt sich nicht zweifelsfrei erschließen. Auf jeden Fall aber richtet Fromm durch seine »eifersüchtige Obhut« (Thalmann) in dem Heranwachsenden ein erhebliches emotionales Chaos an, und das wäre schon schlimm genug. Emotionaler und/oder körperlicher Missbrauch, verübt durch den Mann, dem ihn der Vater anvertraut hat, der beim Vater ein und aus ging. Darüber reden kann er nicht. Gefühlsverwirrung und Scham verschließen dem jungen Mann den Mund. Vielleicht ist er auch nicht als Einziger betroffen. Von zwölf Schülern seines Gymnasialjahrgangs werden sich bis zum Schulabschluss fünf das Leben nehmen. Das lässt darauf schließen, dass Jochen Klepper die letzten Glogauer Jahre nicht allein als »namenlos schwere letzte Schülerzeit« 8empfindet. Die innere Abhängigkeit von seinem Lehrer wird er erst 1926 abschütteln, also mit vier Jahren Abstand zu seiner Gymnasialzeit.
Der Schulunterricht ist vermutlich noch das Stetigste an den Jahren in Glogau. Die Revolution und die Abdankung des Kaisers im November 1918 erschüttern das Weltbild Georg Kleppers und Erich Fromms und des gesamten Bürgertums, mit Preußens Glanz und Gloria ist es vorbei. Das Kriegsende bringt die Demobilisierung von Millionen Soldaten, und das krempelt eine Garnisonsstadt wie Glogau natürlich kräftig um. Das Preußische Kultusministerium hebt am 27. November die geistliche Schulaufsicht auf, damit wird auch das katholische und das evangelische Gymnasium der staatlichen Aufsicht unterstellt. Die am 11. November gegründete Republik Polen erhebt Anspruch auf Teile Ober- und Niederschlesiens, es formieren sich polnische Milizen ebenso wie deutsche »Bürgerwehren«. Anfang 1919 organisieren die Kommunisten im oberschlesischen Kohlerevier flächendeckende Streiks. Anfang Februar, noch bevor die eben gewählte Weimarer Nationalversammlung zusammentritt, kommt es zu ersten bewaffneten Zusammenstößen zwischen polnischen Aufständischen und Einheiten des »Freiwilligenkorps Schlesien«. Streiks und Demonstrationen mal für, mal gegen den Anschluss an Polen beherrschen die Schlagzeilen bis zur Unterzeichnung des Versailler Vertrages am 28. Juni. Der Vertrag erklärt 80 Prozent Oberschlesiens zum Abstimmungsgebiet. Bis der Oberste Rat der Siegermächte die Modalitäten der Volksabstimmung festlegt, werden weitere eineinhalb Jahre vergehen – eine Zeit voller politischer Agitation. Schlesien erlebt in dieser Zeit drei blutige Aufstände und massive Gegengewalt. Am Mittellauf der Oder, also auch auf der Höhe von Glogau und Beuthen, rückt die Grenze zur Republik Polen bis auf 20 Kilometer heran. Ein Großteil der preußischen Provinz Posen ist verloren; Fraustadt, östliche Nachbarstadt von Glogau, verbleibt nur aufgrund seiner deutschen Bevölkerungsmehrheit beim Deutschen Reich. Die Bahnstrecke von Glogau über Lissa nach Posen ist nach knapp 70 Jahren Betrieb gekappt.
Die Welt des Jochen Klepper bekommt also auf einmal einen östlichen Rand, markiert durch Grenzzäune und Schlagbäume. Stabilität in der neu gegründeten Republik garantieren neuerdings die Sozialdemokraten, die der »eiserne Kanzler« Bismarck eine Generation zuvor noch massiv bekämpft hat und die bis zum Krieg von den rechtsnationalen Parteien und Vereinen als »vaterlandslose Gesellen« geschmäht worden sind.
Wie geht der Heranwachsende mit diesen Veränderungen um? Nun, auf der einen Seite nimmt er durchaus Notiz, beobachtet sorgfältig, sammelt Zeitungsausschnitte, ohne großartig zu reflektieren, was er da liest. Die Auswirkungen des Krieges auf die Versorgungslage, der Umgang mit den Kriegsheimkehrern, das beschäftigt ihn schon. Andererseits erschließt er sich just zu dieser Zeit eine andere Welt, die Welt der Dichtung. Er schwärmt für die Romantiker; unter den Dichtern der Gegenwart ist Rilke sein Leitstern. Seine ersten poetischen Versuche mit 16 sind noch sehr idyllisch, da kommt die in Scherben gefallene wirkliche Welt nicht vor. Da verbluten nur die Sonnenstrahlen, die »schweren schwarzen Wolken« ziehen nur dahin, entladen sich nicht. Und deshalb lächelt der Dichter am Ende. Einzelne, spontan verfasste Gedichte gibt er im Kreis der Familie zum Besten, manchmal kommt auch ein Gast in den Genuss. So berichtet der zwei Jahre jüngere Kurt Müller-Osten später von einem Ferienaufenthalt in Beuthen und einer nachmittäglichen Kaffeestunde, bei der Hedwig Klepper sichtlich stolz ein Naturgedicht Jochens vorträgt – »anscheinend gerade bei einer Zigarette entstanden, der Rauch lag noch in der Luft, das hat mir mächtig imponiert.« 9Die ernsthafteren Versuche zeigt er nicht jedem. Aber der 20-jährigen Arztfrau Brigitte Hacker. Die einzigen erhaltenen Gedichte aus dieser Anfangsphase seines literarischen Schaffens (»Lieder der Nacht«) finden sich später bei ihr.
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