»Mir gegenüber waren Sie doch nicht taktlos.«
»Aber sicher – habe ich Ihnen nicht zu einer Zeit, als ich Sie selbst noch für einen Bürger der zweiten hielt, gesagt, daß die besser erzogenen Menschen in der dritten Klasse fahren? Angenommen, ich hätte recht damit, so wäre es eine Anmaßung von mir, nachdem ich das gesagt habe, noch dritter zu fahren. Ich muß es auf mich nehmen, und ich werde in Zukunft nur zweiter nehmen.«
»Nein, mein Freund, Sie haben ein Recht auf die dritte. Als wir nämlich den Bahnsteig verließen, sah ich genau, daß Sie dem Schaffner eine Karte zweiter überreichten. Sie hatten das mit der dritten Klasse nur gesagt, weil Sie annahmen, daß ich dritter führe. Sie wollten mir eine Beschämung ersparen und bekannten sich zum begeisterten Anhänger der dritten.«
Er errötete leicht und lächelte. »Sie sind ein genauer Beobachter, vor Ihnen muß man sich in acht nehmen. Aber es ist doch wirklich ganz egal. ›Beschämung ersparen‹ ist wohl ein zu großes Wort – die Sache ist nicht der Rede wert.«
Er lächelte auf geschmeichelte Weise noch eine ganze Weile, und auch das Erröten schwand nicht sobald. Ich bin nämlich wirklich ein genauer Beobachter, und die Karte, die er abgegeben hatte, war tatsächlich eine – dritter.
April 1923
Psychologische Einstellung
1 Psychologie ist deshalb so schwer, weil der andere gewöhnlich auch ein Esel ist.
2 Es gibt unzählige Beispiele dafür, daß geringere Menschen sich vorzüglich auf Wesen höherer Art eingestellt haben. Sekretäre, Kammerdiener, Zofen, Souffleure, Barbiere, Kapellmeister gaben unwiderlegliche Proben der sichersten Einfühlung in große Staatsmänner, Könige, geistreiche Frauen, geniale Schauspieler und Komponisten. Das Unglück ist sofort da, wenn der Staatsmann ein Esel, der König ein Narr, die Frau eine Pute, der Schauspieler ein Stümper und der Komponist ein Dilettant ist.
3 Der vergangene Krieg wurde mit einer Erfindung gewonnen, die in keinem Kriegslaboratorium der sich gegenüberstehenden Länder gemacht wurde, sondern in dem Genie eines Volkes. Die Erfindung ist das Wörtchen »Boche«. An und für sich bekanntlich gar kein so arges Schimpfwort. Aber eine Bezeichnung von unübertrefflicher Durchschlagskraft. Wir Deutsche haben in der Kriegspropaganda – sogar dem eigenen Volke gegenüber – sehr langatmige Erklärungen abgeben müssen, wieso, warum, wozu. Was haben wir den Neutralen für fein abgewogene, vortrefflich gegliederte, tiefsinnig (ohne Ironie!) begründete Geschichten erzählt! Ich bin ehrlich überzeugt, wir waren im Recht. Aber die anderen verstanden sich nicht auf die Psychologie, die wir ihnen gegenüber anwendeten. Als die Franzosen dagegen das Wort »Boche« aussprachen, da wurden sie in der ganzen Welt verstanden, obgleich die Bedeutung des Wortes niemand wußte und seine Herkunft in Frankreich selbst Millionen vollkommen unbekannt war. »Boche« konnte und brauchte nicht übersetzt werden. Es war von der gleichen Wirkung auf die erste französische Herzogin wie auf den letzten Neger im Herzen Afrikas.
4 Zu den feinsten Psychologen gehört bekanntlich die Rasse der Hunde. Man stelle sich eine über die ganze Erde verbreitete Bevölkerungsschicht vor, die davon lebt, daß sie durch Pfötchengeben und Männchenmachen, durch Schwanzwedeln und treue Blicke ein gerührtes Lächeln erzeugt und damit nicht nur freie Station, sondern auch Bezahlung der Steuern erwirkt. Ich habe gerade diese bescheidensten Hundekünste erwähnt, weil die größte Ausnützung der bescheidensten Arbeit gerade die feinste Psychologie voraussetzt. Damit soll nicht bestritten werden, daß der Hund als Wächter, Detektiv und Jäger auch ganz erstaunliche Proben seiner Einführungskunst abgibt. Aber alle Psychologie hilft nichts gegenüber einem Herrn, der aus Not oder Laune sich entschlossen hat, nächsten Sonntag Hundebraten zu essen. Vergebens würde man einem solchen Herrn auseinandersetzen, daß er mit diesem Schlachtfest eine Torheit beginge. Daß es eine unnütze Grausamkeit sei, am Sonntag einen Hund zu essen, wenn man das Verhungern dadurch nur um einen Tag hinausschiebt. Daß die schmackhafte Zubereitung dieses Tieres zuviel Fett und Gewürze beanspruche, um sich überhaupt auszahlen zu können. Daß der Verkauf des Hundes lukrativer sei als seine Aufopferung. Denn auch ein Hund ohne die Merkmale einer besonderen Rasse stelle eine Summe seelischer Qualitäten, wie Treue, Wachsamkeit, Psychologie, dar, die sich deshalb in Geld ausdrücken läßt, weil die Treue des Hundes die einzige ist, die sich übertragen läßt. Indessen muß man bekümmert annehmen, daß ein Herr, der einmal zu solchem Entschluß gelangt ist, sich weder durch Gründe der Vernunft noch des Herzens davon abbringen lassen wird.
5 Diese Einsicht ist – um wieder vom Hund auf den Menschen zu kommen – insbesondere bekümmernd für eine Nation, die sich der letzten Machtmittel beraubt sieht. Vergebens ruft sie die klügsten Männer an die Spitze ihres Staatswesens und erwartet von ihnen, daß sie bei vollkommener Einfühlung in die Psyche des Gegners der geprüften Nation wenigstens die pure Lebensmöglichkeit bewahren. Man erwartet von ihnen Geschmeidigkeit des Kammerdieners, die Schlagfertigkeit des Souffleurs, die kunstvolle Beherrschung der Mittel eines Kapellmeisters, die genaue Pünktlichkeit des Sekretärs – lauter Rollen, die sehr dankbar, sehr geschätzt sind und schließlich auch entsprechend belohnt werden, wenn der Staatsmann als groß, der Schauspieler als ein Talent, der Komponist als ein Genie angesprochen werden kann.
6 Leider aber ist Psychologie deshalb so schwer, weil der andere gewöhnlich auch ein Esel ist.
April 1922
Wöchentlich einmal spricht der »Phreno- und Physiognom« Reinhold Kohlhardt in irgendeinem Berliner Saal über die Bedeutung der Nase im menschlichen Gesicht, mit besonderem Bezug auf seelische Veranlagung und Berufsübung. Gestern geschah es in der Lyzeumsaula der Prinzenstraße vor etwa einem Dutzend Nasen. Eine davon hatte sich tief gesenkt, und die dazu gehörige alte Dame schlief schon zehn Minuten, bevor das Fest begonnen hatte.
Der Vortrag selbst war so schwer, daß der Nasologe ihn gar nicht allein halten konnte. Er hatte sich einen resoluten Herrn mitgebracht, der, die Anwesenden begrüßend und die Phrenologie für wichtig haltend, auseinandersetzte, der Vortragende werde den Beweis dafür antreten, daß sich der Charakter des Menschen in seiner gesamten Kopf- und Gesichtsform ausdrücke.
Harthold Reinkohl trat diesen Beweis indessen gar nicht erst an, denn wenn auch die Seele des Menschen im Gehirn sitze, so könne man auch schon an der Nase viel sehen, und heute wolle er justament nur über Nasen sprechen. Der schlanke, sympathische, kandidatenförmige Herr öffnete einen großen Koffer, entnahm ihm große, auf Pappe gezogene Umrißzeichnungen und sagte: »Dies ist eine pessimistische Nase. Der Mensch, der traurig ist, geht gebückt, er läßt die Mundwinkel hängen, die Augenwinkel schieben sich herab, und auch die Nase verlängert sich infolgedessen nach unten. Deshalb ist das eine pessimistische Nase. Natürlich sitzt die Seele nicht in der Nase, sondern im Gehirn. (Aber heute wolle er eben von Nasen sprechen.)
Dies ist eine optimistische Nase. Der heitere, freudige Mensch geht aufrecht, seine Blicke sind nach oben gerichtet, und auch seine Nase strebt nach oben. Natürlich sitzt die Seele nicht in der Nase, sondern im Gehirn. (Aber heute ...)
Dies ist die Judennase. (Und er zeigte eine fabelhafte.) Der Erwerbssinn ist in ihr außerordentlich entwickelt. So eine Nase wie diese Nase kommt allerdings heute sehr selten vor. Seitdem die Juden in der Berufswahl nicht mehr so beschränkt sind und sich auch andern Betätigungsgebieten zuwenden können, hat sich auch ihre Nase verändert. Denn mit der veränderten Veranlagung oder Stimmung kann sich auch die Nase ändern. Ein mißtrauischer, pessimistischer Mann kann, wenn er seine Sinnesart ändert, auch seine Nase ändern. Natürlich geht das nicht von heute auf morgen, sondern sehr langsam. Denn die Seele sitzt bekanntlich nicht in der Nase, sondern im Gehirn.
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