Die Jungen waren unschlüssig und mißmutig. Was sollten sie jetzt anfangen? Die alten Spiele machten keinen Spaß mehr. Ilmar schlug vor, U-Boot zu spielen.
Toomas versuchte, die Führung zu übernehmen, aber Ilmar behauptete sich. Es war seine Idee gewesen, und kein anderer durfte die Führung an sich reißen. Widerwillig ließen Toomas und seine Bande sich darauf ein, die Rolle des polnischen U-Boots zu übernehmen, während Ilmar und seine Gruppe die estnischen Verteidiger darstellten.
Sie hatten viel Spaß bei dem Spiel, vor allem deshalb, weil niemand richtig wußte, wie es eigentlich ging.
Nach einer Weile kam jemand auf die Idee, daß das U-Boot sich natürlich auf Fahrt begeben müßte, und es wurde beschlossen, daß die U-Boot-Gruppe versuchen sollte, vom Hafen aus den Feuerwehrpark zu erreichen. Die andere Gruppe, die Verteidiger der Küste, würden sich am Weg verstecken und versuchen, die U-Boot-Gruppe gefangenzunehmen.
Aber die Verteidiger der Küste waren zu viele, zwei mehr als die U-Boot-Besatzung. Rasch wurde entschieden, daß Heino zur anderen Gruppe wechseln sollte. Niemand kümmerte sich um seine Proteste. Er war der Kleinste, und er mußte gehorchen.
Nachdem Ilmar und sein Trupp sich auf den Weg gemacht hatten, diskutierte Toomas mit seinen Leuten, wie sie sich verhalten sollten. Vello erklärte, daß sie ein Periskop brauchten. Von seinem Vater wußte er, daß man die Zielfernrohre auf U-Booten so nannte.
»Ich nehm Heino auf die Schultern«, beschloß Ants, der auch zur U-Boot-Mannschaft gehörte.
Die anderen faßten einander um die Taillen und stützten den Kopf gegen den Rücken des Vordermannes. Zusammen waren sie vierzehn, es wurde also ein langes U-Boot.
Heino gefiel es auf Ants Schultern. Er fühlte die Verantwortung und hielt eifrig Ausschau. Er mußte den Feind rechtzeitig entdecken. Ihr U-Boot bekam Schlagseite, und die Leute drehten sich nach ihnen um und lächelten. Aber Ants fing an zu jammern. Das Periskop war zu schwer!
In dem Augenblick sah Heino, wie sich etwas in einem Hauseingang bewegte. Das war eindeutig ein Jungenkopf, der sich vorstreckte und dann rasch zurückzog. Heino steckte beide Zeigefinger in den Mund, und zufrieden stellte er fest, daß sein Warnsignal scharf und laut klang.
Ilmars Mannschaft nahm die Niederlage an und versammelte sich um das U-Boot. Alle konnten sich ein bißchen ausruhen, und dann wechselte Olev als Geisel zur anderen Mannschaft, und das Spiel begann von vorn.
Zu Hause beim Mittagessen erzählten Jaan und Heino gleichzeitig und fielen sich gegenseitig ins Wort. Aber die Eltern hörten kaum zu. Sie waren selbst randvoll mit Neuigkeiten und erzählten einander, was ihre Arbeitskollegen und andere Leute gesagt und gemeint hatten.
Das beschlagnahmte U-Boot aus Polen war die Sensation des Tages. Alle waren stolz auf die Verteidiger des Landes. Um so größer waren Scham und Erstaunen, als sich später das Gerücht verbreitete, das U-Boot sei verschwunden. Ihm sei die Flucht gelungen, und die estnischen Bewacher an Bord wären gezwungen worden, mitzukommen. Aber das war noch nicht das Schlimmste.
Papa war blaß, als er am Abend nach Hause kam. Er hatte schreckliche Neuigkeiten gehört. Es ging um geheime Beschlüsse, die eigentlich nur einige wenige kannten. Aber selbst geheimste Geheimnisse pflegen durchzusickern. Es gibt immer jemanden, der den Mund nicht halten kann.
Die Sowjetunion wollte sich nicht länger darauf verlassen, daß Estland die Grenzen auf See sichern konnte. Papas Stimme zitterte, als er sagte: »Deswegen hat die sowjetische Flotte den estnischen Teil des Meeres unter Beschuß genommen. Habt ihr das gehört? Unter Beschuß – es ist nicht zu fassen!«
Die Rote Flotte war vor der Küste Estlands. Papa wiederholte immer wieder, es sei nicht zu fassen. Mama versuchte, ihn wie üblich zu beruhigen, und bat ihn, an die Jungen zu denken.
Aber Papa unterbrach sie ärgerlich. Was jetzt geschah, war so empörend, daß man nicht schweigen durfte. Es müßte auf allen Straßen und Plätzen ausgerufen werden. Alle, vom Säugling bis zum Greis, müßten es erfahren!
Jaan und Heino saßen still da und lauschten. Sie fühlten sich plötzlich viel älter. Sie begriffen, daß es auch sie anging, was Papa da erzählte.
»Es geht um Estlands Freiheit!« rief Papa, daß es nur so dröhnte.
Mama sah sich ängstlich um. »Schrei lieber nicht so laut«, sagte sie leise. »Man weiß ja nie, wer noch zuhört.« Es war, als ob sie spürte, daß noch Schrecklicheres geschehen würde.
Während Jaan und Heino am nächsten Tag niedergedrückt waren, war Toomas um so fröhlicher. Schon auf dem Schulhof verhöhnte er Ilmars Bande. Hatte Ilmar immer noch Lust, U-Boot zu spielen? Vielleicht wollte seine Bande jetzt die polnische Seite übernehmen und die andere Mannschaft die estnischen Wachen spielen lassen?
»Toomas«, sagte Jaan, »das Spiel macht keinen Spaß mehr.«
»Wenn die Russen nun unser Land besetzen!« sagte Olev ängstlich.
Toomas war empört. Woher er das habe, daß die Russen Estland einnehmen wollten?
»Das sagen doch alle«, antwortete Olev lahm, und Toomas wurde noch wütender.
»Idiot! Bei euch zu Hause wird wohl ziemlich viel Mist geredet. Ihr könnt ja nicht mal zwischen Wahrheit und Lüge unterscheiden.«
Alle Schüler, die während der Pause auf dem Schulhof waren, kamen neugierig näher und hörten aufmerksam zu. Salme wagte es, sich gegen Toomas aufzulehnen. In verächtlichem Ton forderte sie ihn auf, die große Wahrheit zu verkünden. Wenn er sie wüßte!
Anstatt aufzubrausen, antwortete Toomas ganz ruhig. Er bemühte sich, die anderen zu überzeugen. Alle Esten sollten der Sowjetunion dankbar sein, denn ohne ihren Schutz hätten die Deutschen Estland wahrscheinlich längst geschluckt. Genau wie Polen.
»Aber Papa sagt«, begann Heino eifrig – und im selben Augenblick stolperte Jaan und riß Heino im Fallen mit sich.
»Oh, entschuldige!« Jaan war rasch wieder auf den Beinen. Er klopfte sich und den kleinen Bruder ab und erklärte: »Papa hat gesagt, daß wir Kinder nicht soviel reden sollen. Wir wissen ja sowieso nicht, wie es wirklich ist.«
Die Pause war zu Ende, und das fanden alle nur gut. Die Diskussion auf dem Hof hatte sie beunruhigt. In der nächsten Stunde saß Heino in Gedanken versunken da und hörte nicht, was die Lehrerin sagte. Wie war das nur gekommen, daß Jaan genau in dem Augenblick hingefallen war, als Heino gerade erzählen wollte, was Papa von der russischen Flotte hielt?
Ich bin zu klein, dachte Heino mißmutig. Immer bin ich zu klein. Aber wartet nur! Ich werde noch schlauer als ihr alle zusammen!
Auf der Welt herrschte Krieg. Aber der Krieg war weit weg und ging sie nichts an, fanden die Kinder. Jeden Tag sprachen die Lehrer von den neuesten Kriegsereignissen, und jedesmal versicherten sie den Schülern, daß sie nichts zu befürchten hätten. Estland war frei »für ewige Zeit«.
»Hitler und Stalin«, sagten sie oft. Heino fand, die Namen klangen wie Katzennamen, und das sagte er in einer Pause. Ants und Vello protestierten. Das durfte er nun wirklich nicht von den großen Führern Deutschlands und der Sowjetunion sagen. Jaan kniff ihn unbemerkt in den Arm, und Heino begriff, daß es besser war, den Mund zu halten. Aber innerlich raste er. Natürlich war er jedesmal dankbar, wenn Jaan ihn rettete, trotzdem war er verzweifelt und wütend. Es machte nichts, daß er wegen der Körpergröße der Kleinste war, aber er haßte es, daß er am wenigsten verstand.
Wenn die Schule aus war, gingen die Schüler selten geradewegs nach Hause. An diesem Tag wollten sich die Ragulka-Ritter beim Fahrradhändler treffen und Fahrräder leihen. Aber Heino bekam plötzlich Lust, in Studes Bäckerei zu gehen und Keksbruch zu kaufen. Jaan war einverstanden, aber sie hatten kein Geld. Deshalb beschlossen sie, erst mal Papa in der Werkstatt zu besuchen.
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