Das würden Hausärzte noch fördern, wenn sie
• die Widerstandskräfte ihrer Patienten in den Blick nehmen und deren bisherige Leistungen wertschätzen
• und die Ziele ihrer Patienten erfragen und mit dem, was Evidenz basiert empfohlen wird, abgleichen.
Ein individualisiertes Behandlungsprogramm zu entwickeln, das der Patient als sein eigenes Programm erkennt, ist mehr als die Abhandlung von Algorithmen. Dazu benötigt der Hausarzt die Kompetenz, immer wieder in eine beobachtende Position zu gehen: »Wie erlebt sich der Patient und wie erlebe ich mich selbst?«. Außerdem sind für dieses ambitionierte Projekt Rückmeldungen aus Erhebungen hilfreich, in wieweit er evidenzbasierte Zielsetzungen überhaupt erreicht hat. »Wie viele meiner Patienten erreichen zum Beispiel den gewünschten HBA1c-Zielwert, und wer nicht?« Auch das gehört zu einer selbstreflexiven Praxis des Hausarztes.
2.8.1 Ressourcen Orientierung
Wir Ärzte neigen dazu, ausschließlich das Pathologische zu erfragen und daraus eine Diagnose zu konstruieren. Erkenntnisse der Salutogenese-Forschung (Was hält uns gesund?), die mit den Holocaust Überlebenden Aaron Antonovski und Victor Frankl begonnen hat, sollten uns bewegen, die Blickrichtung zu ändern. Was könnten wir z. B. bei dem oben genannten Patienten Z loben? Zum Beispiel seinen Mut, bereits mit 17 Jahren das Elternhaus zu verlassen und für sich selbst zu sorgen, die Disziplin, eine Ausbildung zum Bergmann erfolgreich abzuschließen und seinen Wunsch nach Änderung, der ihn jetzt zur Hausärztin führte. Motivation zu einer gesunden Lebensführung ist erfolglos, wenn Drohungen ausgesprochen werden wie zum Beispiel: »Sie werden noch im Rollstuhl enden!« und düstere Szenarios an die Wand gemalt werden. »Nie wieder!« Ziele funktionieren meistens nicht. Erfolgversprechender ist es, mit dem Patienten darüber zu sprechen, was er gerne macht oder früher gerne gemacht hat, oder wo er schwierige Situationen gemeistert und etwas verändert hat. Und noch größer sind die Erfolgsaussichten, wenn der Arzt dazu ein Lob ausspricht. Gute innere Bilder halten gesund (
Tab. 2.1,
Tab. 2.2)!
2.8.2 Ziele klären und Ambivalenzen zu diesen Zielsetzungen
Was sind die Ziele, die der Patient für wichtig hält, oder welche er gegeneinander abwägt? Wie kann der Hausarzt sie zum Thema des Gesprächs machen? Folgende Fragen bieten sich an:
• »Woran würde andere Ihre Veränderung merken?«
• »Was wäre anders, wenn Sie diese Beschwerden nicht hätten?«
• »Was spricht dagegen, jetzt schon die Änderung vorzunehmen?« (zu zirkulären und zukunftsorientierten Fragen
Kap. 10
)
Tab. 2.1: Verbale Interventionen im Umgang mit chronisch Kranken

InterventionenErläuterung
Tab. 2.2: Weitere Bausteine der Behandlung
BehandlungsbausteineErläuterung
Was kann man unter einem Wahrnehmungstraining verstehen? Zum Beispiel Schmerz-Tagebücher, in die notiert wird, wann und in welcher Situation der Schmerz geringer war. Sehr empfehlenswert, insbesondere bei missmutig gestimmten Patienten oder Patienten mit Schlafstörungen, ist das »Freudetagebuch«: »Wahrnehmung ist stimmungsabhängig und nicht immer objektiv. Hat sich jemand ein grünes Auto gekauft, dann ist seine Welt voller grüner Autos. Wenn man schlecht gelaunt ist, nimmt man nur das wahr, was zu dieser Stimmung passt. Doch Wahrnehmung kann man trainieren und umgekehrt dadurch die Stimmung verändern. Schreiben Sie in Ihrem Bett vor dem Einschlafen fünf Erinnerungen des Tages in ein kleines Buch, bei denen Ihnen Gutes widerfahren ist: Ein gutes Telefonat mit der Tochter, ein leckeres Essen, jemand hat Sie gelobt, Sie haben sich etwas Gutes gegönnt etc. Es dürfen mehr Erinnerungen sein, aber nicht weniger. Erst dann dürfen Sie einschlafen.« Ein solches Tagebuch sollte mindestens vier Wochen geführt werden.
Weitere Behandlungstechniken kann der Hausarzt von psychotherapeutischen Methoden übernehmen und in seinen Behandlungsalltag einbauen. Imaginative Fähigkeiten besitzt jeder Patient und mancher wendet sie an, zum Beispiel der Schutzengel, der am Rückspiegel des Autos befestigt ist. Werbung nutzt diese Fähigkeit und auch die Sportpsychologie. Der Hausarzt kann anregen, dass der Patient seine imaginativen Fähigkeiten bewusst nutzt. Hierzu zählen Gedankenstopp-Techniken oder der Einsatz von Symbolen, damit der Patient unterstützt und ermutigt wird, seine Ziele zu erreichen. Die hypnosystemischen und Trauma-Therapeuten halten eine Vielzahl bewährter Imaginationen bereit (Reddemann 2016).
Die Anregung einer gestuften Konfrontation mit einer angstauslösenden Situation wurde unlängst als wirksam in hausärztlichen Praxen überprüft (Gensichen 2019).
2.9 Strukturelle Voraussetzung: Kooperation und vernetztes Arbeiten
Die gute Versorgung chronisch Kranker stellt strukturelle Anforderungen an eine Hausarztpraxis. Die Entwicklung der digitalen Techniken lässt auf Möglichkeiten zur besseren Kommunikation zwischen ambulantem und stationärem Sektor hoffen. Die Hausarztpraxis sollte in ein Netzwerk kooperierender Gebietsärzte und ihrer Teams eingebunden sein, zu dem neben Psychiatern auch ärztliche und psychologische Psychotherapeuten gehören sollten.
Primärmedizinische Organisationsformen – seien es eine Einzelpraxis, Gemeinschaftspraxis oder ein medizinisches Versorgungszentrum – bedürfen der Kooperation mit Physio-, Ergo- und Soziotherapeuten und psychosozialen Einrichtungen. Neue Formen der Kooperation auf Ebene der Kommune oder des Quartiers sollten entwickelt werden.
Wie viele Ärzte auch immer in einer primärmedizinischen Versorgungseinheit, möglicherweise sogar im Schichtdienst, zusammenarbeiten, eine dauerhafte personale Beziehung zwischen einem hauptsächlich betreuenden Arzt und seinem Patienten sollte gewährleistet sein. Dieser Arzt sollte alle geplanten Gespräche mit dem Patienten durchführen. Andernfalls wird bereits auf struktureller Ebene ein wichtiges Werkzeug der Behandlung aufgegeben.
Bei der Versorgung chronisch Kranker ist das ganze Team der Praxis gefordert. Eine nachvollziehbare Dokumentation ist nötig, allein schon wegen Urlaubs- und Krankheitsvertretung und Akutkonsultationen. Damit das Potential der Medizinischen Fachangestellten (MFA) zur Versorgung genutzt werden kann, z. B. im Case-Management, müssen hierarchische Strukturen abgebaut, Qualifikation aller Beteiligten verbessert werden und eine transparente Aufgabenzuweisung erfolgen (
Kap. 11).
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