• oder Nebenwirkungen von Medikamenten wie z. B. Beta-Blockern, trizyklische Antidepressiva, Neuroleptika und Anti-Parkinsonmitteln.
Hinweise zur Abgrenzung der verschiedenen Ursachen und psychosomatischen Differentialdiagnostik gibt die DEGAM-Leitlinie Müdigkeit (Baum et al. 2017).
Menschen mit im ICD-10 definierten chronisch somatischen Krankheiten leiden sehr viel häufiger an einer Depression als die Durchschnittsbevölkerung (NVL Unipolare Depression 3 ).
Für Hausärzte ist die naheliegende Aufgabe, bei der Betreuung chronischer Kranker an das Vorliegen einer Depression zu denken und sie aktiv – zum Beispiel im Rahmen von allen DMP-Untersuchungen – zu erfragen, um entsprechende Behandlungspfade einschlagen zu können.
Die Allgemeinmedizin ist nicht krankheits-, sondern patientenorientiert. Wir arbeiten nicht nur Algorithmen ab – so wichtig dies auch ist. Auch wenn wir Hausärzte solche Algorithmen wie z. B. den Marburger Herz-Score zu Hilfe nehmen, geht es letztendlich immer darum, ein individualisiertes Behandlungsprogramm zusammen mit dem Patienten zu entwickeln. Diese komplexe und spannende Aufgabe macht den Reiz des Hausarztberufes aus.
2.6 Der Anpassungsprozess
2.6.1 Phasen der Anpassung
Eine chronische Erkrankung ist ein Einschnitt in das bisherige Leben, der für jeden Menschen Verlust, Verunsicherung und Bedrohung bedeutet und das Selbstwertgefühl sowie das Bedürfnis nach Selbstkontrolle beeinträchtigen kann. Das Selbstwertgefühl kann verletzt werden, weil die Krankheit die soziale Stellung, berufliche Tätigkeit, Partnerschaft und Attraktivität gefährdet. Das Bedürfnis nach Selbstkontrolle kann beeinträchtigt sein, weil die Krankheit bisherige Lebenspläne in Frage stellen kann und Entscheidungsspielräume des Kranken so einengt, dass dieser sich der Krankheit ausgeliefert fühlt. An die Veränderungen, die eine chronisch körperliche Erkrankung mit sich bringt, muss sich der Patient anpassen. Dieser Prozess dauert lange und ist durch verschiedene Phasen gekennzeichnet. Am Anfang kann der Patient die Krankheit und ihre Folgen überhaupt verleugnen. Danach ist er hin- und hergerissen zwischen Verleugnung und Akzeptanz und feilscht mit dem Arzt. Jedenfalls sollte der Hausarzt seinen Patienten Zeit geben.
Wie gut Anpassung gelingt, ist davon abhängig, ob der Patient in seinem frühen Leben eine grundsätzliche Zuversicht hat gewinnen können, dass sich Dinge gut entwickeln werden. Hat der Patient in seiner Herkunftsfamilie eine Gelassenheit im Umgang mit Schwerem lernen können oder nicht; oder wurde zügig zu Medikamenten gegriffen, auch wenn es nur Globuli waren? Besonders geprägt ist der Anpassungsprozess davon, ob der Patient über gute soziale Beziehungen heute verfügt. Ein solches Wissen sollte den Hausarzt dazu bewegen, sich für Herkunft und das aktuelle Beziehungsgefüge zu interessieren und im Behandlungsplan auf die Förderung sozialer Bindungen Wert zu legen. Wie ein jeder mit Schwerem umgeht, ist veränderbar und keine in die Wiege gelegte Gabe.
2.6.2 Jeder reagiert unterschiedlich
Der eine mag Krankheit ausschließlich als bedrohliche Zukunft sehen: »Es wird bestimmt schlimm ausgehen!«; der nächste als gerechte oder ungerechte Bestrafung, die er entweder verdient oder die schicksalhaft über ihn gekommen ist. Ein anderer mag seine Krankheit als Kränkung betrachten. Er schämt sich über seine nun offensichtliche Verletzlichkeit wie er überhaupt das Älterwerden leugnen will. Ein zwanghaft strukturierter Patient wird seine Krankheit als Kontrollverlust betrachten und als »das Böse«, das nun im eigenen Körper festsitzt und über das wieder Kontrolle gewonnen werden muss. In jedem Fall sollte sich der Hausarzt dafür interessieren, welche Bedeutung der jeweilige Patient seiner Erkrankung gibt, und welche inneren Bilder er dafür hat. Denn diese werden seinen weiteren Umgang mit der Krankheit bestimmen (
Kap. 9). Die meisten Menschen haben bereits Schweres erlebt und haben im Umgang damit ihre Widerstandskraft bewiesen und Anpassung geleistet. Daran kann der Hausarzt anknüpfen und beitragen, dass Leistungen der Vergangenheit auch heute nützlich werden.
2.6.3 Konflikte mit ärztlichen Wertvorstellungen
Das Leitbild eines unter widrigsten Umständen Haltung bewahrenden Kranken, der aktiv seine Probleme löst, ist ein durch Normen unserer Gesellschaft geprägtes Leitbild. Es ist auch unter Ärzten weit verbreitet. Sie könnten in Resignation oder Respektlosigkeit gegenüber dem Patienten verfallen und sich als Handlanger wirtschaftlicher Interessen benutzen lassen, anstatt sich die eigenen Wertvorstellungen zu vergegenwärtigen. Wie schon am Beispiel des Herrn Z. beschrieben, zeigen Menschen der unteren Einkommensschicht häufig ein inadäquates Krankheitsverhalten. Respektvoll gegenüber dem Patienten zu bleiben und gemeinsam an der Priorisierung von Zielen zu arbeiten, die mit Wunsch des Patienten nach Erhaltung von Selbstständigkeit und sozialer Teilhabe vereinbar sind, ist nicht leicht.
2.7 Priorisierung bei Multimorbidität
Im Fallbeispiel des Herrn Z. hatte die Hausärztin aus ihrer Sicht das extreme Übergewicht als vorrangig erachtet, für den Patienten dagegen stand seine soziale Lage und seine Antriebslosigkeit im Vordergrund. Die voreilig dem Patienten unterbreitete ärztliche Behandlungsstrategie führte zunächst dazu, dass der Patient für Monate die Praxis mied.
Empfohlene Behandlungsstrategien bei Multimorbidität können widersprüchlich sein und Patient und Hausarzt überfordern. Polypharmakotherapie kann unüberschaubare Interaktionen bergen – der Hausarzt sollte daher begründet weglassen. Er sollte die tatsächlich verwendeten Medikamente überprüfen und von Zeit zu Zeit gemeinsam mit dem Patienten die angesammelten Medikamentenpackungen sortieren. Warum hat der Patient die Medikamente nicht oder nicht korrekt eingenommen? Der Hausarzt sollte Missverständnisse annehmen oder an kognitive Einschränkungen denken, nochmals aufklären und Hilfestellungen für den Patienten vorschlagen.
Doch wenig Gesichertes existiert, um Hausärzten bei dieser schwierigen Aufgabe zu helfen. Die Gefährdung von Selbstständigkeit und Autonomie gilt heute als abwendbar gefährlicher Verlauf und Teilhabe am sozialen und Familienleben als wichtiger Wert. Diese Wertung kann dabei helfen, die richtigen Prioritäten zu setzen.
DEGAM-Leitlinie Nr. 20. Multimorbidität. S3-LeitlinieAWMF-Register-Nr. 053-047 4 DEGAM S1 – Handlungsempfehlung Medikamentenmonitoring 5
Ziele zu priorisieren und zu vereinbaren und Medikamentenpläne zu erstellen, kostet Zeit, zumal getroffene Entscheidungen immer wieder der Überprüfung bedürfen. Manches kann der Hausarzt im Rahmen der DMPs an sein Team delegieren. Manches wird zukünftig ein digitales Programm übernehmen, das Patienten die Fragen stellt, die sich aus Algorithmen ergeben. Hilfreich ist, dass sich der Hausarzt in regelmäßigen Abständen für einen ausführlichen Bilanzierungsdialog Zeit nimmt (Bahrs 2011).
2.8 Reflektierende Praxis: Haltungen und Interventionen
Alle unsere Interventionen sollen dazu dienen, die Selbstwirksamkeit der Patienten zu erhöhen und ihnen ein selbstbestimmtes Leben zu ermöglichen. Für das Gelingen bietet die hausärztliche Arbeitsweise wichtige Voraussetzungen: Unsere Beziehung zu den Patienten ist auf eine langanhaltende Betreuung angelegt und bezieht das familiäre und nachbarschaftliche Umfeld der Patienten mit ein (
Kap. 3). Eine langanhaltende Beziehung ist geeignet, Mortalität und Morbidität zu senken (Pereira et al. 2018) – ein weiterer Grund, Hausärzte als erste Ansprechpartner bei chronischen Krankheiten zu wählen.
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