Auch die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen gestalten die Komplexität. Hierzu gehören die globalen, durch den Klimawandel geschaffenen und in Gestalt weiterer Pandemien auf uns zukommenden Veränderungen, die knapper werdenden Ressourcen der Zeit, hohe Mobilität, Armut und Arbeitslosigkeit und eine zunehmende Zahl von Patienten aus anderen Kulturen, sowie nicht zuletzt die zunehmende Digitalisierung der Gesellschaft sowie die Entwicklung neuer Versorgungsstrukturen. Viele Hausärzte sehen sich mit Problemen konfrontiert, die aus Umweltzerstörung, Armut, prekärer Beschäftigung, langen Anfahrtswegen zum Arbeitsplatz und der Auflösung von Familienbeziehungen herrühren. Diese sozialen Rahmenbedingungen können sie nicht beeinflussen und mögen sich daher überfordert fühlen. Dennoch wünschen sich Patienten von ihren Hausärzten – und diese haben auch eine bescheidene Macht dazu – die Bedingungen etwas weniger belastend zu gestalten, sei es durch Arbeitsunfähigkeit-Bescheinigungen, Anträge auf Rehabilitationen, Schwerbehinderten-Ausweise, Kuren und ähnliches. Es erscheint uns wichtig, zumindest grob diese gesellschaftlichen Rahmenbedingungen zu skizzieren.
Die technische Innovation der Digitalisierung hat bereits viel verändert und wird es auch durch die Covid-19-Pandemie weiterhin tun. Sie demokratisiert und erleichtert den Zugang zu medizinischem Expertenwissen für alle Menschen und könnte Kooperation vereinfachen. Sie nährt aber auch die Illusion, dass sich allein durch viele Daten Komplexität reduzieren ließe und eine Medizin, die dem Beziehungserleben und dem Verstehen des Anderen Raum gibt, nicht mehr nötig sei. Sie stärkt die Illusion des Individuums, dass Kontrolle in einer unsicher erlebten Welt möglich sei und macht gleichzeitig seine Kontrolle in umfassender Weise möglich. Hier bieten wir keine Lösungen, sondern Überlegungen an, wie wir nicht nur Opfer dieser Innovation sein können. Wir verweisen auf Apps für Patienten und informative Internetadressen.
Zusätzlich zum Versorgungsauftrag ist der Auftrag der Aus- und Weiterbildung getreten. Die Hausarztpraxis ist zum Lernort geworden. Allgemeinmediziner haben neben ihrer Rolle als Versorger auch die des Lehrenden bzw. Gelehrten (engl. »scolar«) übernommen. Dies macht die Interaktion in der Hausarztpraxis komplexer. Neben dem Sachwissen über die Rahmenbedingungen der Aus- und Weiterbildung wird in diesem Kapitel vermittelt, mit welchen Methoden – zum Beispiel dem Feedback geben – die Interaktionen mit Studierenden und Ärzte in Weiterbildung werden können.
Wie können Hausärzte in dieser komplexen Situation weise Entscheidungen treffen? Hohe sachliche Kompetenz und Partizipation (Einbeziehung des Patienten in die Entscheidungsfindung) sind dazu sehr wichtig. Choosing wisely wird bisher unter dem Gesichtspunkt betrachtet, nicht evidenzbasierte Behandlungsstrategien zu eliminieren. Das ist hilfreich und basal, um Fehl- und Überversorgung zu beschränken, aber nicht allein ausreichend. Ist es ausreichend, wenn Partizipation hinzutritt? Partizipation ist heute zu einem ethischen Grundsatz in der Medizin geworden. Es ist eine gute Entwicklung, sich vom paternalistischen Modell abzuwenden und Patienten nach ihren Zielen und ihrem Weg dorthin zu befragen. Doch muss Partizipation berücksichtigen, dass die Beziehung zwischen Patienten und Arzt asymmetrisch und Macht ungleich verteilt ist. Es ist nicht der Königsweg, Verantwortung an die Patientin zu delegieren und mit der Ablehnung des paternalistischen Modells auch gleichzeitig die ärztliche Fürsorge zu eliminieren. Auf den Weg dahin, Weisheit oder den »guten Hausarzt« zu beschreiben, definieren wir Sach- und technisches Wissen, Erfahrungswissen und Intuition. Hausärztliche Weisheit macht aus, dass er Unsicherheit überhaupt aushalten und interaktionelles Verhalten sich bewusst machen und verstehen kann.
Daraus resultieren folgende Kompetenzen:
• die interaktionelle Kompetenz, die Selbstbeobachtung und -reflexion einschließt,
• die Kompetenz, mit Unsicherheit umzugehen,
• und auch die Kompetenz, unterschiedliche Vorgehensweisen in ihrer möglichen Auswirkung Patienten nahezubringen (Risikokompetenz).
Wie können sich Ärzte befähigen und befähigt werden, Beziehungen zu gestalten, dysfunktionale zu vermeiden, auch langfristig zu begleiten und sich selbst vor Erschöpfung und Zynismus zu bewahren? Die Kompetenz zur Selbstbeobachtung ist dafür wesentlich. Hier greifen wir Aspekte des Lehrbuchs zur psychosomatischen Grundversorgung und das Konzept der Beziehungsmodi (Veit 2018) wieder auf.
Da-Sein, um wahrzunehmen, zu reflektieren und dann zu kommunizieren! Kommunikative Kompetenz ist ein wesentliches Standbein. Kommunikation wird in diesem Kapitel vor allem aus systemischer Sicht betrachtet, Ergänzungen erfolgen aus psychodynamischer und phänomenologischer Sicht (
Kap. 10
). Die verbalen Interventionen werden zusammenfassend dargestellt, die der geschilderten Komplexität Rechnung tragen und Hilfe geben, Patientinnen und Patienten in einer Situation der Verunsicherung, die jede Krankheit darstellt, unter Berücksichtigung ihrer Lebenswelt zu begleiten. Der Schwerpunkt liegt hier auf dem Gespräch und der Sprache. Forschungsergebnisse zur Gesprächsführung werden berücksichtigt.
Ebenfalls sind Strukturen der Praxisorganisation notwendig, um den hausärztlichen Versorgungsauftrag zu erfüllen. Strukturen sind derzeit im Wandel. Bereits jetzt und noch mehr in der Zukunft wird das gesamte Behandlerteam, zu dem die medizinischen Fachangestellten und weitere Berufsgruppen gehören werden, die wesentliche Rolle primärmedizinischer Versorgung spielen. Die klassische, hierarchische Arbeitsteilung ist dafür nicht die Lösung. Deshalb stellt sich jetzt die Aufgabe, die Praxis als eine lernende Organisation zu gestalten, die team- und netzwerkorientiert ist.
In sieben Thesen wird am Ende die Hausarztpraxis der Zukunft skizziert. Welcher strukturelle Wandel steht uns möglicherweise bevor? Wird es den Hausarzt der Zukunft überhaupt noch geben? Oder lassen wir unsere Tätigkeit reduzieren, in einzelne Teile fragmentieren und ermöglichen damit unseren teilweisen Ersatz?
Wir hoffen darauf, dass eine humanistische, beziehungsorientierte und den Kontext berücksichtigende Sichtweise Bestand haben wird.
2 Komplexitätsvariable: Multimorbidität
2.1 Die Zahl chronisch Kranker nimmt zu
Patient mit multiplen chronischen Krankheiten und Adipositas
Der 45-jährige Patient Herr Z. ist extrem übergewichtig mit einem BMI deutlich über 40 kg/m². Er leidet unter Gelenkbeschwerden und Schlafproblemen. Als Folgeerkrankungen bestehen bereits ein Diabetes mellitus, arterieller Hypertonus, koronare Herzkrankheit KHK und ein Schlaf-Apnoe-Syndrom. Chronische Schmerzen unterstützen seinen mangelnden Antrieb zur Bewegung und vermehren in einem Teufelskreis das Übergewicht.
Herr Z. ist arbeitslos. Eigentlich ist er gelernter Bergmann, wegen des Übergewichts (er kann sich kaum die Schuhe zubinden) konnte er seinen Beruf nicht mehr ausüben. Die soziale Ablehnung, die übergewichtige Menschen erfahren, ließ ihn schon vor Jahren keine Arbeit finden. Zwischenzeitlich hat er einen Kiosk aufgemacht. Zeitweilig übermäßiger Alkoholgenuss und Schulden förderten seine soziale Deprivation. Seine Essgewohnheiten werden von Armut beeinflusst: Als Nahrungsmittel werden industrielle Billigprodukte verwendet, die hastig und unachtsam verzehrt werden. Außerdem unterstützt Armut den sozialen Rückzug. Weil passende Kleidung kaum finanzierbar ist, traut er sich nirgendwo hin. Der Arztbesuch ist schon aus diesem Grund für ihn beschämend. So taucht er im »Blaumann« in der Arztpraxis auf.
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