2.2 Arbeitslosigkeit, Armut und Einsamkeit machen krank
Wohlstand in Deutschland wirkt sich nicht für alle gleich aus. Arbeitslosigkeit verdoppelt das erwartbare Sterberisiko. Die 14 % der Männer, die zur untersten Einkommens- und Bildungsschicht in Deutschland gehören, haben ein 8-faches Sterberisiko gegenüber der höchsten Einkommensschicht (Grigoriew 2019) und ein Drittel von ihnen wird keine 65 Jahre alt (Lampert 2019). Der Unterschied in der Lebenserwartung beim Vergleich von Personen mit niedrigem und hohem Einkommen in einem der wohlhabendsten Länder der Welt ist bedrückend (
Kap. 5). Besonders bemerkenswert sind Hinweise, dass sich der Unterschied der Lebenserwartung vergrößert hat. Ein Beleg ist dafür der Vergleich jüngerer Geburtsjahrgänge (Nachkriegsjahrgänge) mit weiter zurückliegenden Geburtsjahrgängen (Vorkriegsjahrgänge) (Haan 2019). Gesundheitliche Ungleichheit ist ein Tatbestand.
Wenn Menschen sozial isoliert sind, haben sie ein deutlich höheres Risiko, krank zu werden, und ihre Krankheitsverarbeitung ist beeinträchtigt. Der Risikofaktor »soziale Isolation« muss heute gleichwertig leichtem Rauchen, Hypertonus und Adipositas für die Entstehung der Koronaren Herzkrankheit eingeschätzt werden (Valtorta 2016).
2.3 Multimorbidität verstehen
Abb. 2.2: Ursache von Multimorbidität: ein komplexes Bedingungsgefüge
Pathophysiologische Erkenntnisse helfen, die geschilderten Beobachtungen besser in einen Zusammenhang zu bringen. Chronischer Stress (Hypercortisolismus) – besonders, wenn er früh im Leben erfahren wird – hat neurotoxische Wirkungen auf das Gehirn und damit auf die kreiskausalen Regulationen zwischen Gehirn und Immunsystem. Epigenetische Prozesse spielen dabei eine Rolle. Chronischer Stress fördert die Bildung von Entzündungsmediatoren, die eine große Bedeutung für die Pathophysiologie chronischer Krankheiten haben. Frühkindliche Belastungen und unsichere Bindungserfahrungen beeinflussen spätere Gesundheit oder Krankheit, weil sie sowohl die Immunantwort des jeweiligen Individuums verändern als auch einen riskanten Lebensstil zur Folge haben können. Auch Herr Z. und bereits die Generation vor ihm in seiner Herkunftsfamilie haben komplexe Traumatisierungen erlebt. Inadäquates Krankheitsverhalten trägt zur Chronifizierung bei (
Abb. 2.2).
2.4 Die Bedeutung des Übergewichts – überschätzt?
Herr Z. ist extrem übergewichtig. Unbestreitbar ist, dass eine Vielzahl chronischer Krankheiten mit einem deutlich erhöhten Body-Mass-Index (BMI) einhergehen. Adipositas wird definiert durch einen BMI >30 kg/m². Ein knappes Fünftel der Erwachsenen in Deutschland ist bei Zugrundelegung dieser Definition adipös (Selbstangaben Befragter 2017), ein knappes Viertel nach erhobenen Messdaten des Robert Koch-Instituts von 2011 (Schienkewitz et al. 2017 und Lampert 2019).
Abb. 2.3: Prävalenz der Adipositas bei Frauen in Abhängigkeit vom Alter und Einkommen in % Für alle untersuchten Frauen steigt Adipositas mit dem Alter – in der höchsten Altersgruppe beträgt der Unterschied zwischen arm und reich mehr als 30 % (Daten nach Bundesgesundheitsblatt 5/6 2013).
Während Adipositas bei älteren Frauen (bis 69 Jahren) leicht rückläufig ist, hat sie bei jungen Erwachsenen und Kindern und Jugendlichen deutlich zugenommen (Mensink et al. 2013). Ob der Body-Mass-Index überhaupt eine Größe ist, die krankheitsrelevant ist, wird zumindest in der Praxisempfehlung der DEGAM zur Adipositas infrage gestellt, weil er Fettanteil und -verteilung nicht berücksichtigt. Ist der Taillenumfang nicht relevanter? Vergessen werden sollte nicht: Moderates Übergewicht (bis BMI 30 kg/m²) ist ein Schutzfaktor bei einer Vielzahl schwerwiegender Erkrankungen. Leicht lässt sich Adipositas der mangelnden Selbstdisziplin eines Individuums zuschreiben, dem vielleicht noch durch Aufklärung beizukommen ist. Auf komplexere Zusammenhänge verweist bereits, dass die Prävalenz der Adipositas wesentlich geringer ist bei Personen mit hohem sozio-ökonomischen Status (Lampert et al. 2013;
Abb. 2.3).
Adipöse Patienten erleben sich gesellschaftlich stigmatisiert und diskriminiert. Eine adipöse Patientin berichtete, dass sie sich in der Öffentlichkeit nicht mehr traue, ein Eis zu essen angesichts der sie verurteilenden Blicke der Passanten – die Stigmatisierung ist ein Grund für sie, sich für eine bariatrische Operation zu entscheiden. Adipöse Patienten fühlen sich oft auch von ihren Ärzten respektlos behandelt. Weil auch wir Hausärzte von gesellschaftlichen Normen beeinflusst sind, sollten wir unsere Haltung gegenüber Übergewichtigen hinterfragen. Bei keiner anderen Krankheit ist der Einfluss der Nahrungsmittelindustrie so offensichtlich: Fett in Lebensmitteln wurde durch Zucker ersetzt. Die schädliche Zuckerkonzentration im Lebensmittel wird unter dem Label des »Light-Produktes« verborgen. Herr Z. denkt erst gar nicht über Light-Produkte nach; er kauft bei knappem monatlichen Grundeinkommen Billigprodukte ein und, weil er allein lebt, überwiegend industrielle Fertigprodukte.
Die Politik unternimmt wenig und überlässt scheinbar demokratisch fast alles dem Individuum. Wenn das Kind bereits in den Brunnen gefallen ist, melden sich wieder Industrien, jetzt mit Formula-Diäten, deren langfristiger Erfolg nicht bewiesen ist.
Bariatrische Operationen zeigen bessere Langzeitergebnisse. Trotz erheblichen Risikos forcieren manche Patientinnen diese Eingriffe. Traumatische Erfahrungen in der Lebensgeschichte ist oft der Hintergrund für dieses Verhalten. Aufklärung über gesunde Ernährung ist oft nicht ausreichend. Eine psychotherapeutische Behandlung sollte neben ernährungsmedizinischer Aufklärung eine weitere Voraussetzung vor einem solchen Eingriff sein. Eine begleitende Betreuung im Rahmen einer hausärztlichen psychosomatischen Grundversorgung ist unerlässlich.
2.5 Komplexe Differentialdiagnostik und Behandlung ist anspruchsvoll
Ist Herr Z. antriebslos, weil er depressiv ist, weil das Schlaf-Apnoe-Syndrom nicht behandelt ist oder weil er herzinsuffizient ist? Liegt es an der Armut, den Blutdruck senkenden Medikamenten oder gibt es noch mehr mögliche Überlegungen? Eine hohe differentialdiagnostische Aufgabe stellt sich, im Einzelfall zu entscheiden, was der jetzt maßgebliche individuelle Grund für Müdigkeit, Abgeschlagenheit und Antriebslosigkeit ist.
Bei Erschöpfung und herabgesetzter Stimmung können z. B. vorliegen:
• eine depressive Störung,
• körperliche Erkrankungen wie z. B. die Hypothyreose besonders im Alter, ein Schlaf-Apnoe-Syndrom, Infektionen, Anämien, Multiple Sklerose und vieles mehr,
• weitere oder andere psychische Erkrankungen wie z. B. Essstörungen, Süchte und Substanzabusus, Angststörungen mit sozialem Rückzug,
• oder eine Folge oder Anpassungsstörung an chronische Krankheiten oder schweren Verlust:
• Trauer über den Verlust körperlicher Integrität,
• soziale Auswirkungen der Krankheit (Armut, Arbeitslosigkeit, Einsamkeit)
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