Wenn mehrere vor dem Arzt im Sprechzimmer sitzen, ist es schwierig, durch Einforderung von Einsicht ein Verstehen der Position des anderen zu ermöglichen. Wenn in einem Gespräch in der Gruppe einer der Teilnehmer das Gefühl hat, der Arzt verbünde sich mit dem anderen, wird er seine Anklagen verschärfen oder sich gänzlich zurückziehen. Nichts ist gewonnen, damit die Familie eine gemeinsame Lösung findet.
Doch ist diese Regel hinfällig, wenn Hausärzte für den Schwächeren Partei ergreifen müssen, um zum Beispiel den Schutz eines Opfers in einer von Gewalt und Vernachlässigung charakterisierten Familie zu gewährleisten.
3.5.3 Der Schutz der Schwächeren
Die Schweigepflicht ist das Dach, unter dem sich Patienten trauen, auch Dinge preiszugeben, die sie sehr beschämen. Die Schweigepflicht ist ein großes Gut, das nur im Fall drohend gefährlicher Verläufe aufgegeben werden darf. Im Falle häuslicher Gewalt gegen Frauen kann der Hausarzt durch Aufklärung und genaue Dokumentation helfen. Im Falle häuslicher Gewalt gegenüber minderjährigen Kindern oder ihrer Vernachlässigung sollte der Hausarzt immer die Familie mit seinen Beobachtungen konfrontieren und Hilfestellung anbieten. Nur wenn dies erfolgt ist, Hilfen abgelehnt werden und die bedrohliche Situation nach ärztlicher Sicht andauert, soll er Behörden informieren. Diese Vorgehensweise ist gesetzlich geregelt. (Rechtfertigungsgrund des rechtfertigenden Notstands nach § 34 StGB zum Schutz höherrangiger Rechtsgüter; Gefahr nur durch Bruch der Schweigepflicht abwendbar: unverzügliches Handeln erforderlich, konkrete Wiederholungsgefahr – Dokumentation!)
Hilfreiche Internetadressen
https:// http://www.frauen-gegen-gewalt.de https://www.hsm-bonn.de(Gewalt im Alter) https://www.kidsinfo-gewalt.de
3.5.4 Die Familie als Team nutzen
Die wichtige Funktion der Familie in der Pflege von Angehörigen kann nicht ohne Verluste an externe Pflegedienste delegiert werden. Diese Verluste sind nicht nur gesamtgesellschaftliche, finanzielle Verluste. Wie bereits erwähnt, Beziehung ist heilsam und hilfreich für Anpassung. Diese Funktion können professionelle Dienste nur eingeschränkt wahrnehmen. Der Arzt kann seine Autorität nutzen, um die Familie zu ermutigen und durch Loben die Fürsorge der Familienmitglieder würdigen; er kann helfen, dass pflegende Familienangehörige eine finanzielle Anerkennung ihrer Leistungen erhalten. Er kann pflegende Angehörige vor eigener Überforderung bewahren und dringend notwendige Entlastung anregen, die vielleicht von Angehörigen in einer Fehleinschätzung eigener Kräfte zu Beginn einer krankheitsbedingten Krise nicht gewollt werden; zum Beispiel der Ehefrau empfehlen, zumindest eine Haushaltshilfe zur eigenen Entlastung einzustellen und nicht alles selber zu machen. Er kann durch Information über soziale Hilfen für Entlastung der Pflegenden sorgen. Doch auch bei dieser Aufgabenstellung lauern Gefahren. Er könnte seine Position nutzen, um Familienmitglieder zu Mit-Therapeuten zu machen, die das gar nicht wollen oder leisten können. Vielleicht ist es die Ehefrau, die sich schon immer hat auszunutzen lassen. Vielleicht ist es die Tochter, die dazu neigt, sich zu überfordern, damit sie endlich die Anerkennung bekommt, die sie sich lebenslang von den Eltern wünschte. Vielleicht ist es ein neuer Partner, der sich den rasant verändernden Umständen einer dementiellen Entwicklung seiner neuen Partnerin oder Partners nicht gewachsen fühlt. Unter dem Druck des Arztes überfordern sie sich möglicherweise selbst. Die Reflexion seiner Rolle im System Familie kann den Arzt vor Interventionen schützen, die die Familie überfordern.
Schon 2018 gab es 3,4 Mio. pflegebedürftige Menschen, von denen 2,6 Mio. zuhause und eine knappe Mio. stationär oder teilstationär versorgt wurden. Ihre Zahl steigt, und mit zunehmendem Alter der Pflegebedürftigen ihre stationäre oder teilstationäre Versorgung. Viele Familien sind mit der Pflege überfordert und weichen auf ambulante Pflegekräfte aus osteuropäischen Ländern aus, um ein Leben der Angehörigen in ihrem Zuhause zu ermöglichen. Die Covid-19-Pandemie zeigt, wie anfällig dieses System ist, und macht die Not der Pflegebedürftigen und ihrer Pflegerinnen und Pfleger sichtbar. Vor diesem Hintergrund werden neue Formen des Zusammenlebens im Alter wichtig, die Ressourcen der Gleichaltrigen, vielleicht weniger eingeschränkten Mitbewohner nutzen, um Krankheit, Altern und Sterben zu bewältigen ( www.lebendigaltern.de).
3.6 Was Hausärzte von den Methoden der Familientherapie übernehmen können
Selten erhält der Hausarzt den Auftrag, die Familie als Gesamtheit zu behandeln. Sein Behandlungsauftrag geht meist vom individuellen Patienten aus. Nicht ohne Grund wählen Paare, wenn die Möglichkeit besteht, verschiedene Ärzte derselben Praxis als »ihren« Arzt aus. Der Hausarzt sollte das Ganze berücksichtigen, doch sein Auftrag ist hauptsächlich die Behandlung des Individualpatienten. Doch auch, wenn der Hausarzt kein Familientherapeut ist, sind die Methoden der Familientherapie für ihn sehr wertvoll, wenn er in Familien das Verstehen der anderen anregen und Kommunikation in Gang setzen will. Diese Methoden werden zugeschnitten auf den hausärztlichen Arbeitsbereich dargestellt.
3.6.1 Erlebte Anamnese und biografische Anamnese
Erlebte Anamnese betont die Wichtigkeit von Informationen, die der Arzt für seine Hypothesenbildung benötigt. Natürlich sind Informationen wichtig, die Ärzte durch geteilte Lebenswelten oder im longitudinalen Verlauf der Betreuung oder durch andere Familienmitglieder erhalten, die gleichzeitig behandelt werden. Selbstverständlich ist es wichtig, von der Ehefrau zu erfahren, dass das Schnarchen des Ehemannes sie stört. Der Hausarzt kann den Beziehungs- wie den Sachaspekt dieser Aussage nutzen. Die erlebte Anamnese ist jedoch kein Ersatz für die Erfassung der individuellen Sichtweise des jeweiligen Einzelpatienten. Implizit stellt der Begriff den Arzt in den Mittelpunkt und hält die Bedeutung für ausschlaggebend, die er dem Geschehen erteilt. Er unterstellt, dass der Arzt weiß, was »richtig« ist. Dies steht im Gegensatz zur Auffassung systemischer Familientherapie, dass die Familie immer selbst eine Lösung finden muss. Erlebte Anamnese ist auch kein Ersatz für eine biografische Familienanamnese. Ausdrücklich sollten Hausärzte die biografische Erzählung ihrer Patienten erfassen (Veit et al. 2018). 7
Die Familie ist der Ort, an dem sich alle Entwicklungsschritte vollziehen. Jeder entwickelt sich nur im kommunikativen Tanz mit seinen ersten Bezugspersonen. Fehlende Nestwärme oder gestörte Resonanz kann weitreichende Folgen für Gesundheit und Krankheit haben. 8
Wie kann der Arzt für sich und seine Kollegen Familienstrukturen sowohl in der Herkunftsfamilie als auch in der aktuellen Familiensituation dokumentieren? Hierzu wird in allgemeinmedizinischen Lehrbüchern das Genogramm ( www.ge nogramm.de) vorgeschlagen, das verschieden Symbole bereithält, um das Beziehungsgefüge einer Familie über die Generationen in einem Flussdiagramm zu veranschaulichen. Sicherlich empfehlenswert, aber vielleicht für alle Fälle zu ausführlich, zumal sich der Hausarzt anamnestisch an den Einzelnen wendet.
Für die Autorin hat sich bewährt, in einem Anamnesebogen Genealogie wie folgt zu erfassen: Alter des jeweiligen Elternteils bei der Geburt des Indexpatienten (zum Beispiel: Mutter +20, wenn diese zum Zeitpunkt der Geburt des Patienten 20 Jahre alt war), deren Geburtsort und Beruf. Die Stellung in der Geschwisterreihe (zum Beispiel: Männlichkeitszeichen +7, wenn ein Bruder 7 Jahre älter ist als der Patient). In ähnlicher Weise kann mit den eigenen Kindern des Indexpatienten verfahren werden. Wichtige Trennungserlebnisse und Verluste sollten dokumentiert werden: Scheidung der Eltern (+7), wenn der Indexpatient zum Zeitpunkt der Trennung der Eltern 7 Jahre alt war. Der berufliche Werdegang einschließlich des erlernten Berufes sollte erfasst werden.
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