„Wißt ihr, wer das war?“ Er warf einen furchtsamen Blick auf das Abteil am Ende des Wagens. „Der Polizeipräfekt von Kopenhagen mit seiner Frau!“
Einer seiner Untergebenen erlaubte sich zu erwidern:
„Aber Sie haben doch bloß ihren Paß gesehen!“
Ungeduldig antwortete der andere:
„Sie werden nie schlußfolgern lernen, Sörensen! Der Paß lautete auf den Polizeipräfekten und seine Frau.“
„Aber, wer sagt Ihnen,“ beharrte Sörensen eigensinnig auf seinem Gedankengang, „daß dieser Herr nun unbedingt der Polizeipräfekt sein muß?“
„Mein Gott!“ stöhnte der Chef. „Mein Gott! Sie haben doch selbst gesehen, daß die beiden sich geküßt haben! Glauben Sie, die Frau des Polizeipräfekten küßt sich mit einem fremden Manne? Noch dazu in der Eisenbahn?“
„Tja,“ sagte Sörensen, „das verstehen Sie natürlich besser. Ich meine nur: es soll ja auch Frauen geben, die auch mal mit einem fremden Manne …“
„Aber keine Frauen von Polizeibeamten!“ belehrte ihn der Vorgesetzte. „Wo ist die drahtlose Station, Zugführer?“
*
Das Telephon klingelte. Der Minister nahm selbst den Hörer ab.
„Anruf von L-Zug 7: kurz vor Kopenhagen. Mit Voranmeldung: der Herr Minister persönlich.“
„Am Apparat.“
„Ich gebe Bericht über die Durchsuchung des Zuges.“
„Haben Sie ihn gefunden?“
„Nein, Herr Minister. Wir haben alle Pässe revidiert — er war nicht im Zuge.“
„Sie sind ein …“ Wütend knallte der Minister den Hörer auf die Gabel. „Er ist ein Esel!“ vollendete er, indem er sich zu dem Herrn herumwandte, der neben seinem Schreibtisch stand.
„Jawohl, Herr Minister“, sagte der.
„Herr Präfekt!“ Der Wütende richtete sich auf und stützte sich mit beiden Händen auf die Kante des helleichenen Schreibtisches. „Herr Polizeipräfekt!“
„Jawohl, Herr Minister.“
„Es ist keine Frage: mit diesem Zuge ist er gekommen. Das bedeutet, daß wir in dieser Nacht mit einem neuen Verbrechen zu rechnen haben. Alles steht für uns auf dem Spiel; wahrscheinlich werden wir in diesen sieben Stunden etwas erleben, was Kopenhagen noch nicht gesehen hat. Sie haben es für richtig gehalten, Ihre unfähigsten Beamten auf die wichtigste Mission zu entsenden, die es in diesem Augenblick gibt. Ich danke Ihnen aufrichtig, Herr Präfekt.“
„Ich habe drei Beamte an den Zug beordert“, sagte der Belobte.
„… die alle drei nichts entdeckt haben.“
„Allerdings.“
„Wenn in dieser Nacht etwas passiert, Herr Präfekt — und es wird etwas passieren, so wahr ich Minister bin — ich sage: wenn in dieser Nacht etwas passiert: ein Verbrechen — ein Attentat — ein Befreiungsversuch — so sind wir beide erledigt. Sie und ich, Herr Präfekt. Wissen Sie, was das bedeutet?“
„Ich weiß es, Herr Minister“, sagte der Präfekt.
„Das freut mich. Ich wünsche Ihnen eine angenehme Nacht.“
*
„Warum —“ Die Dame wandte sich lächelnd zu ihrem Begleiter herum, der neben ihr den Bahnsteig entlangschritt. „Warum bleiben Sie einen halben Schritt hinter mir?“
Der dunkle Herr warf einen schnellen Blick auf den livrierten Chauffeur, der drei helle Lederkoffer balancierend vor ihnen herschritt.
„Nun?“
Der Hauptbahnhof war erfüllt von Menschen, von Lärm, von Geschrei. Eben ging der Chauffeur durch die Sperre; der Schaffner, der die Uniform kennen mochte, grüßte kollegial und wandte den Kopf erwartungsvoll dem Perron zu; er legte die Hand an die Mütze.
„Werden Sie von Ihrem Gatten erwartet?“
Die junge Dame zuckte die Achseln. „Es ist möglich. Mein Mann hat viel zu tun.“
„Ich habe,“ begann der Herr zögernd, „ich habe eine Verabredung …“
„Ich nehme Sie im Auto mit in die Stadt.“
Die beiden traten ins Freie hinaus. Drüben hielt der Wagen; der Chauffeur stand am geöffneten Schlag.
Der junge Herr blieb stehen. „Es ist sehr gütig, gnädige Frau. Welchen Weg fahren Sie?“
„Durch die Vesterbrogade.“
„Das ist schade: ich muß rechts herum: nach der Glyptothek.“
„Wie Sie wollen.“
Der Herr ergriff die Hand der blonden Frau und blickte ihr stumm ins Gesicht.
„Mein Mann würde kaum etwas dagegen haben.“
„Ich werde kommen“, sagte er leise. „Früher als Sie denken, werde ich bei Ihnen sein.“
„Wollen Sie mich nicht ans Auto geleiten?“
Er zog die Uhr. „Seien Sie mir nicht böse — es geht nicht.“
„Steht so viel auf dem Spiel?“
Er zog die Hand der jungen Frau an die Lippen.
„Ja“, sagte er, indem er sich aufrichtete. „Es steht viel auf dem Spiel.“
Sie wandte sich herum, mit einem kurzen, ein wenig indignierten Gruß. Er blieb einen Moment lang stehen, vielleicht unschlüssig, vielleicht im plötzlichen Gefühl einer begangenen Unhöflichkeit, vielleicht eines begangenen Fehlers. Im Innern des Autos flammte eine Lampe auf; im gleichen Augenblick wandte sich der Herr zur Rechten und verschwand im Menschengewühl, das in unablässigem Strome dem Innern der Stadt zuflutete.
„Warum ist mein Mann nicht gekommen?“ Sie legte die Hand auf den Türgriff.
„Der Herr Präfekt,“ sagte der Chauffeur, immer mit jener schonenden halblauten Stimme; „der Herr Präfekt ist heute sehr gehetzt, gnädige Frau. Er hat in aller Eile diese Blumen in den Wagen gelegt, dann ist er wieder abgefahren. Man sucht jemanden. Etwas mit Politik. Ein ganz schwerer Fall.“
„Was hat mein Mann damit zu tun?“
„Ich weiß es nicht genau, gnädige Frau.“
Die junge Frau zog den Schlag zu; augenblicklich ging die Hupe des Autos. Der Schutzmann, der dienstbereit gefolgt war, gab ein Signal; der Wagen glitt in den dämmernden Abend hinein.
Sie wandte den Kopf zur Rechten, das heimatliche Bild schien ihr neu und ungewohnt; neu in seinen herben nordischen Konturen, die sie erst jetzt, nach den Eindrücken einer langen und abwechslungsreichen Reise, recht begriff. Sie blickte hinüber, angezogen von irgend etwas, was sie fühlte, nicht sah.
An der Ecke der Helgolandsgade stand ihr Reisebegleiter; er blickte dem Wagen entgegen, verstohlen, dennoch mit einem unverkennbaren gespannten Interesse. Sie zog den Kopf zurück, ohne eigentlich zu wissen warum. Schämte sie sich für ihn? Er hatte erklärt, er müsse zur Rechten, nach der Glyptothek. Warum hatte er gelogen?
*
Eben fiel die Gartentür hinter ihr zu, als ein zweites Auto vorfuhr. Es war das Dienstauto der Staatspolizei; ihr Mann stieg aus und kam mit eiligen Schritten hinter ihr her. Er schien ihr nervös, ganz gegen früher fiel ihr seine Zerstreutheit auf. Dennoch, das fühlte sie deutlich, war er froh über ihre Rückkehr; er drückte ihre Hand und preßte sie, wie es seine Gewohnheit war, zärtlich gegen seine Wange.
Aus dem Arbeitszimmer kam das Schrillen des Telephons. Er seufzte auf und nahm den Hörer ab; sie trat zögernd hinter ihm ein. Eben hörte sie, wie er sagte:
„Alle Bahnhöfe besetzen — alle Flugstationen sperren — alle Autostraßen, die zur Stadt hinausführen, unter Bewachung stellen! Ich bin die ganze Nacht telephonisch zu erreichen — der geringste Vorfall ist mir sofort zu melden!“
Die Zofe erschien.
„Der Herr Präfekt denken doch daran, daß die Herrschaften heute abend zum Ball eingeladen sind?“
Er wandte sich seufzend herum. „Du wirst müde sein, Schatz.“
„Ich?“ Sie schüttelte lächelnd den Kopf. „Müde?“
„Nun — von der langen Reise …“
„Ist das Bad bereit?“
„Gewiß, gnädige Frau.“
„Ich bin nicht müde“, sagte sie, schon in der geöffneten Tür. „Nicht im geringsten. Übrigens: was für ein Ball ist das? Und bei wem?“
Aber in diesem Augenblick klingelte das Telephon, und der Präfekt, der ärgerlich eine gleichgültige Meldung entgegennahm, konnte die Frage nicht mehr beantworten.
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