Sie hob den Blick; der Herr, der sie unverwandt angesehen hatte, ließ schuldbewußt seine Augen zur Seite gleiten; sie senkte den Blick wieder; schon fühlte sie von neuem seine stumme Bewunderung. Nein: mit dem Instinkt der Frau fühlte sie: das war mehr als Bewunderung: das war Verliebtheit, vielleicht sogar eine gewisse begehrliche Verliebtheit.
Ein Schatten fiel plötzlich über das Buch.
Sie hob den Kopf; der Herr war aufgestanden.
Erstaunt folgte sie ihm mit den Augen. Er ging zur Tür und zog die Vorhänge vor.
Während er zurückkehrte, sah sie ihn fragend, wie mit einem leichten Kopfschütteln, entgegen.
„Warum tun Sie das?“
Der Herr stand einen Augenblick stumm vor ihr, so, als ob er auf diese Frage keine Antwort wisse. Der kleine Raum zitterte im leisen Takt der Räder, wie in einer sanften und streichelnden Melodie. Jenseits der Fenster lagen schon die Schatten des jungen Abends; die grünen und roten Lichter der Semaphore glitten vorüber; in rhythmischem Auf und Ab rasten Telegraphendrähte vorbei. Alles klang zusammen wie zu einer weichen und lockenden Melodie; die bläuliche Dämmerung — die Lichter der Stadt, die zusehends wuchsen; und dieser klingende, klirrende Zug, der ihn und sie in eine Nacht hineintrug, erfüllt von erregenden Geheimnissen.
Ein glückliches Lächeln trat in sein Gesicht. Sie sah ihm forschend in die Augen; aber wie unter der suggestiven Gewalt seiner Gegenwart begann auch sie zu lächeln. Er beugte sich zu ihr nieder; sie ließ es geschehen, indem sie, vielleicht um ihm den Ausdruck ihres Gesichts nicht zu zeigen, den Kopf ein wenig senkte. Er schob das Magazin zur Seite und setzte sich neben sie. In stummer Zärtlichkeit nahm er ihre Hand und legte sie an seine Wange; das Magazin glitt auf den Fußboden. Er küßte ihre Hand mit einer scheuen, fast kindlichen Gebärde; langsam wandte er sich zu ihr herum, ihren Blick suchend.
Sie sah mit einer schnellen, unruhigen Bewegung auf ihre rechte Hand, an der ein goldener Trauring blitzte; mit einem leisen Seufzer drehte sie den Kopf. In ihre dunklen Augen trat ein Ausdruck wie ein huschender Schatten — es schien, als ob sich in diesem Moment der Kontakt zwischen den beiden Menschen lockere. Aber von neuem fühlte sie den Druck seiner Hand, den heißen und werbenden Blick seiner Augen. Unschlüssig sah sie auf die dunklen Bäume, die draußen vorüberglitten. Am Horizont tauchten die fernen Türme der Stadt auf — wie eine Mahnung, daß diese Fahrt, diese Stunde, dieser Rausch bald zu Ende sein würde; sie fühlte, wie ihr Herz zu pochen begann; aus dem Takt der Räder hörte sie ein Flüstern; in einer beklommenen Ahnung mochte sie fühlen, daß es das Rauschen ihres eigenen Blutes war. Sie schloß die Augen; er preßte sie an sich; zärtlich schmiegte sie ihre Wange an die seine.
„Ich liebe Sie!“ flüsterte er leise, fast unhörbar; nur mit dem Gefühl begriff sie den Sinn seiner Worte. Noch immer hielt sie ihre Augen geschlossen.
„Ich liebe Sie!“ stammelte er. „Ich werde in Kopenhagen bleiben, solange Sie es mir erlauben. Ich muß Sie wiedersehen!“
Sie antwortete nicht, mit keinem Wort, mit keiner Bewegung. Aber ihre stumme Regungslosigkeit dünkte ihn eine zärtliche Bejahung. Er preßte ihr Gesicht in seine Hände und küßte sie; mit einem leisen Seufzer ließ sie es geschehn. Während er zärtliche und irre Liebesworte stammelte, schmiegte sie sich an ihn; sie legte schweigend die Arme um seinen Hals, schweigend sah sie ihm in die Augen. Der tiefe und leidenschaftliche Ernst seines Blickes verwirrte sie vollends; sie fühlte die heiße Flamme, die auf sie überschlug, die sie einhüllte und die ihren Körper und ihre Sinne verzehrte. Wie in einer stummen Antwort auf eine leidenschaftliche Frage nickte sie; sie schloß die Augen, und während sie stockenden Atems zärtliche Worte flüsterte, küßte sie ihn wieder.
*
Die Glocke der Blockstation 43 hämmerte viermal durch den Abend: bimbam, bimbam, bimbam, bimbam; das Uhrwerk schnarrte auf; zum zweiten Male ging es: bimbam, bimbam, bimbam.
Der Wärter lief aus dem Hause. Rasselnd zog er das Uhrwerk auf. Dann löste er den Sperrhaken der Seiltrommel; drüben an der Kreuzung der Chaussee ging der Schlagbaum nieder.
Ein klingendes Geräusch kam von drüben, von den Flügeln des Semaphors. Erstaunt blickte der Wärter hinüber; vor seinen Augen stellte sich der Arm auf „Halt“; das rote Licht flammte auf.
Der Wärter blickte ratlos den Schienenstrang hinunter; schon kam aus der Ferne das leise Geräusch des sich nähernden Kontinental-Zuges. Er wandte den Kopf nach rechts; nirgends war etwas zu sehen, was das Haltesignal erklärte.
Die Hupe eines Autos gellte durch den Abend. Auf der Landstraße nach Kopenhagen tauchten die Lichtbündel zweier Scheinwerfer auf; der Wagen sauste bis hart an die geschlossene Schranke heran. Es war ein offenes Auto mit dunkelgrün lackierter Karosserie; vorn am Führersitz wehte die Staatsflagge.
Drei Herren stiegen aus; sie blickten dem herannahenden Zuge entgegen, der seine Geschwindigkeit angesichts des kategorischen „Halt!“ zusehends verminderte; einer von ihnen ging an die Seiltrommel und begann den Schlagbaum aufzuwinden.
Der Blockwärter trat hinzu; der Herr sagte, ohne sich in seiner Arbeit stören zu lassen:
„Polizei!“
Die Köpfe der Passagiere tauchten an den Fenstern auf; der Zug hielt. Eine Tür ging auf; in ihrem Rahmen stand die breitschultrige Gestalt des Zugführers. Die drei stiegen ein. Ihr Chef zog eine Legitimation; salutierend legte der Zugführer die Hand an die Mütze.
„Paßrevision!“ sagte der Chef der drei; und während ihm der Bahnbeamte verständnislos ins Gesicht sah, setzte er hinzu:
„Politische Polizei. Wir suchen einen Russen. Vielfacher Mörder.“
Der kleine Trupp setzte sich in Bewegung. Der Blockwärter gab irgendeine Meldung ins Telephon; fast augenblicklich erschien das grüne Licht am Signalmast; der Schlagbaum begann langsam vorüberzugleiten. Leises Rollen setzte ein: der Zug hatte die Fahrt wieder aufgenommen. — — —
„Und hier,“ sagte der Zugführer, indem er auf die verhängten Fenster eines Abteils deutete — „und hier: hier sitzt ein Herr mit einer Dame, die beiden fallen mir schon seit Gjedser merkwürdig auf.“
Er wies auf den schimmernden Seidenvorhang und wandte sein entrüstetes Gesicht den dreien zu: auf der Seide zeichnete sich die Silhouette von zwei Köpfen ab, die sich küßten.
Der Führer der drei schob krachend die Tür zurück und riß die Vorhänge auseinander.
„Die Pässe bitte!“
Die Dame, die der Tür am nächsten saß, knipste das Handtäschchen auf. Der Kontrollbeamte war einen Schritt ins Abteil getreten; die beiden andern und der Zugführer sahen neugierig hinein. Die Dame reichte das Paßbüchelchen herüber. Während der Beamte die Blätter durch die Finger gleiten ließ, kamen fremdartige Stempel zum Vorschein der Beweis einer langen internationalen Reise. Er drehte das Heft herum und schlug das Titelblatt auf. Er las den Namen der Besitzerin …
In diesem Augenblick erlebten die drei, die draußen standen, ein seltsames Schauspiel: vor ihren leibhaftigen Augen verwandelte sich ein schnaubender fährtewitternder Büttel in einen lächelnden Untertan. Ein Jagdhund, der hachelnd vor dem Bau des gehetzten Wildes stand, wurde in einer einzigen Minute zu einem kleinen, weißen, zärtlichen Lamm.
Er klappte das Buch zu, gab es mit einer tiefen Verbeugung zurück, trat auf den Korridor hinaus und rollte mit einer behutsamen und schonenden Gebärde die Tür langsam in das Schloß zurück, in das sie schnappend einklinkte.
„Nanu“, sagte der Zugführer.
Jener winkte nur kurz mit dem Zeigefinger und ging den Korridor hinunter; gehorsam folgten ihm die drei. Am Ende des Wagens, in der Ausbuchtung der Tür, blieb der Führer stehen.
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